Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
selten ihr ganzes Leben lang, ist sie Soldatin, Nestbauerin, Brutpflegerin oder Allzweckarbeiterin.
Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass genetische Merkmalsvielfalt zwischen den Arbeiterinnen eusozialer Kolonien nicht nur existiert, sondern für die Kolonie auch eine Funktion trägt – dokumentiert wurde das für die Resistenz gegen Krankheiten und für die Klimaregelung im Nest. Sollte das die Kolonie zu einer Gruppe von Individuen machen, die (im Sinne der Theorie der Verwandtenselektion) jeweils individuell versuchen, die Fitness ihrer eigenen Gene zu optimieren? Dass das nicht unbedingt so sein muss, wird klar, sieht man, dass das Genom der Königin Abschnitte enthält, deren Allele (verschiedene Ausformungen jedes Gens) relativ wenig variabel sind, wenn die Merkmale, die sie bewirken, inflexibel sein müssen, und dass es andererseits Abschnitte mit hoher Allelvariabilität aufweist, wenn Flexibilität der entsprechenden Merkmale gefordert ist. Genetische Inflexibilität ist unabdingbar für Systeme mit Arbeiterkasten, für ihre Organisation und die Zuweisung des jeweils persönlichen Arbeitseinsatzes. Gefördert wird genetische Flexibilität in der Reaktion der Arbeiterinnen dagegen für die Krankheitsresistenz der Kolonie und für die Klimaregelung im Nest. Je mehr Genotypen in einer Kolonie existieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass zumindest einige von ihnen überleben, wenn das Nest von einer Krankheit heimgesucht wird. Und je größer die Bandbreite der Empfindlichkeiten für Abweichungen von der gewünschten Temperatur, Feuchtigkeit und chemischen Zusammensetzung der Luft ist, desto näher können diese Faktoren der Nestatmosphäre am Optimum gehalten werden.
Zwischen der Königin und ihren Töchtern besteht kein wesentlicher genetischer Unterschied, der festlegen würde, welcher Kaste sie angehören können. Jedes befruchtete Ei kann, sobald die Genome der Königin und des Männchens sich vereinigt haben, entweder Königin oder Arbeiterin werden. Wohin es geht, hängt von den genauen Umweltbedingungen ab, die das einzelne Koloniemitglied während seiner Entwicklung erfährt, etwa von der Jahreszeit, zu der es geboren wird, von seiner Ernährung und den wahrgenommenen Pheromonen. In dieser Hinsicht sind die Arbeiterinnen Roboter, produziert von der Königin-Mutter als mobile Teile ihres Phänotyps.
In sozialen Hautflügler-Kolonien (Hymenoptera wie Ameisen, Bienen, Wespen), die nur als «primitiv» zu bezeichnen sind, bei denen also nur geringe anatomische Unterschiede zwischen der Königin und ihren Arbeiter-Nachkommen bestehen, kommt es häufig zu einem Konfliktstadium, wenn Arbeiterinnen sich selbst fortzupflanzen versuchen. In der Regel hindern die anderen Arbeiterinnen die Usurpatorin daran und schützen damit den Vorrang der Königin. Zum Beispiel können sie sie einfach von der Brutkammer entfernen, wenn sie Eier zu legen versucht. Oder sie besteigen die Missetäterin, um sie zu bestrafen, und das kann so weit gehen, dass sie sie verkrüppeln oder gar töten. Kann sie ihre Eier irgendwie doch in die Brutkammer schmuggeln, so erkennen die anderen Arbeiterinnen diese am Geruch, entfernen sie und fressen sie auf. Viele Untersuchungen haben erwiesen, dass dieses Konfliktpotenzial mit dem Grad der genetischen Abweichung zwischen den Möchtegern-Usurpatoren und der Königin korreliert. Zum Teil könnte sich dieses Phänomen durch einen genetisch bedingten Geruchsunterschied erklären lassen, der dann den Grad der Feindseligkeit bestimmt. Trotzdem bleibt die Frage, ob diese Konflikte als Argument gegen die Individualebene herhalten können, also gegen die natürliche Selektion von Königin zu Königin. Das ist nicht der Fall, wenn wir die Usurpatoren etwa als Entsprechung von Krebszellen in Säugetierorganismen betrachten. Der komplexe Zellapparat von Säugetieren (mit T-Zellen, T-Zell-Rezeptoren, der Herstellung von B-Zellen) und ihr Hauptgewebeverträglichkeitskomplex dienen demselben Zweck – der Verhinderung von Infektionen und ungehemmtem Zellwachstum – wie die genetische Variabilität zwischen den Nachkommen der Königin.
Zur Gruppenselektion kommt es in dem Sinn, dass der Erfolg oder Misserfolg der Kolonie davon abhängt, wie gut die Königin und ihre roboterartigen Nachkommen im Wettbewerb mit solitären Individuen und anderen Kolonien abschneiden. Gruppenselektion ist eine nützliche Vorstellung, um genau die Selektionsziele festzulegen, wenn Königinnen (und die dazugehörigen
Weitere Kostenlose Bücher