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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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Kolonien) mit anderen Königinnen konkurrieren. Die Multilevel-Selektion aber, bei der die Kolonialevolution darin besteht, dass die einzelne Arbeiterin ihre Interessen gegen die Interessen der Kolonie abwägt, ist heute kein hilfreiches Konzept mehr, um darauf Modelle der genetischen Evolution bei sozialen Insekten aufzubauen.
    Zudem ist schon allein die Vorstellung des Altruismus in einer Insektenkolonie zwar eine hübsche Metapher, hat aber wissenschaftlich gesehen letztlich nur geringen analytischen Wert. Meinen wir damit Altruismus in dem Sinn, dass die persönliche Reproduktion geopfert wird, dann ist das Vorhaben, das mit der Theorie der Multilevel-Selektion zu erklären, geradezu illusorisch. Die Mutter, deren Gene von der individuellen Selektion überprüft werden, kann Arbeiterinnen erschaffen, die ihre darwinsche Fitness steigern. Nimmt man ihr diese Fähigkeit, so scheitert sie.
    Bemerkenswerterweise war schon Darwin in der Entstehung der Arten über denselben Grundbegriff gestolpert, wenn auch in rudimentärer Form. Er hatte sich lange und intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie aus der natürlichen Selektion sterile Ameisenarbeiterinnen hervorgegangen sein konnten. Er sorgte sich über eine Schwierigkeit, «welche mir anfangs unübersteiglich und meiner ganzen Theorie wirklich verderblich zu sein schien». Dann löste er das Rätsel über den Begriff, den wir heute als phänotypische Plastizität bezeichnen: Die Königin-Mutter und ihre Nachkommen gelten demnach gemeinsam als Ziel der Selektion durch die äußere Umwelt. Die Ameisenkolonie ist eine Familie, führt er aus und erklärt, «daß Zuchtwahl ebensowohl auf die Familie als auf die Individuen anwendbar ist und daher zum erwünschten Ziele führen kann. Rindviehzüchter wünschen das Fleisch vom Fett gut durchwachsen; ein durch solche Merkmale ausgezeichnetes Tier ist geschlachtet worden, aber der Züchter wendet sich mit Vertrauen und mit Erfolg wieder zur nämlichen Familie. (…) So ist auch bei den geselligen Insekten Zuchtwahl auf die Familie und nicht auf das Individuum zur Erreichung eines nützlichen Ziels angewendet worden. Wir können daher schließen, daß unbedeutende Modifikationen des Baus oder Instinkts, welche mit der unfruchtbaren Beschaffenheit gewisser Mitglieder der Gemeinde im Zusammenhang stehen, sich für die Gemeinde nützlich erwiesen haben; in Folge dessen gediehen die fruchtbaren Männchen und Weibchen derselben besser und übertrugen auf ihre fruchtbaren Nachkommen eine Neigung, unfruchtbare Glieder mit den nämlichen Modifikationen hervorzubringen.»[ 12 ]
    Das gut durchwachsene Rindfleisch ist eine hübsche Metapher. Der Superorganismus ist die Königin, die von ihren dienenden Töchtern umschwärmt wird. Mit Hilfe der modernen Biologie lässt sich heute meines Erachtens erklären, wie es zur Entstehung eines solchen Wesens gekommen ist.

17.
SOZIALE INSTINKTE ALS WERK
DER NATÜRLICHEN SELEKTION
    Charles Darwin äußerte in Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier (Original 1872) erstmals die Vorstellung, dass auch der Instinkt der Evolution durch natürliche Selektion unterliegt. Dieses stilistisch einfache und reich bebilderte Buch – die letzte und am wenigsten bekannte seiner vier großen Veröffentlichungen[ 24 ] – postulierte, dass die Verhaltensmerkmale jeder Art genauso erblich sind wie die typischen Merkmale ihrer Anatomie und Physiologie. Dass sie aufgekommen sind und heute existieren, so Darwin, liegt daran, dass sie in der Vergangenheit Überleben und Fortpflanzung gefördert haben.
    Darwins grundlegende Einsicht wurde seither wieder und wieder bestätigt. Auf ihr fußt ein Großteil dessen, was wir heute über das Verhalten wissen. Ihre Ausstrahlungskraft ist der Grund dafür, dass einhundert Jahre später Konrad Lorenz, einer der Begründer der modernen Verhaltensforschung an Tieren, Darwin als Schutzheiligen der Psychologie bezeichnete.
    Und doch: Keine These der modernen Wissenschaft löste eine größere Kontroverse aus als die, der menschliche Instinkt sei ein Produkt von Mutation und natürlicher Selektion. In den 1950er Jahren überlebte sie den Ansturm des radikalen Behaviorismus nach B. F. Skinner, also die Vorstellung, dass jedes Verhalten sowohl beim Tier als auch beim Menschen irgendwie und in jedem beliebigen Stadium der Entwicklung des Einzelnen ein Produkt des Lernens ist. In den folgenden zwanzig Jahren stellte die Theorie des durch natürliche Selektion herausgeformten

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