Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
größerer Teil des übrigen Genoms (das heißt des gesamten genetischen Codes) betroffen sein und so zunehmend komplexe Gesellschaften aufkommen lassen.[ 10 ]
Im alten, konventionellen Bild, dem der Verwandtenselektion und des «egoistischen Gens», ist die Gruppe ein Bund verwandter Individuen, die miteinander kooperieren, weil sie verwandt sind. Obwohl ein gewisses Konfliktpotenzial besteht, tragen sie doch altruistisch zu den Bedürfnissen der Kolonie bei. Arbeiterinnen treten bereitwillig einen Teil oder ihre gesamte persönliche Reproduktionsfähigkeit ab, weil sie verwandt sind und wegen der gemeinsamen Abstammung Gene teilen. Damit begünstigt jede ihre eigenen «egoistischen» Gene, indem sie identische Gene fördert, die auch bei ihren Gruppenmitgliedern vorhanden sind. Selbst wenn es für eine Mutter oder Schwester sein Leben hingibt, vermehrt ein solches Insekt die Häufigkeit seiner Gene, die es mit den Verwandten teilt. Zu den vermehrten Genen gehören auch die, die das altruistische Verhalten bedingen. Verhalten sich andere Koloniemitglieder genauso, so kann die Kolonie als Ganzes Gruppen aus ausschließlich egoistischen Mitgliedern übertreffen.
Die Theorie vom egoistischen Gen wirkt zunächst ganz und gar vernünftig. In der Tat galt sie den meisten Evolutionsbiologen gleichsam als Dogma – zumindest bis 2010. Dann wiesen Martin Nowak, Corina Tarnita und ich nach, dass die Theorie der Gesamtfitness, häufig auch als Theorie der Verwandtenselektion bezeichnet, sowohl mathematisch als auch biologisch fehlerhaft ist.[ 11 ] Einer ihrer Hauptmängel besteht darin, dass sie die Arbeitsteilung zwischen Königin-Mutter und ihren Nachkommen als «Kooperation» darstellt und das Verlassen des Nests als «Abtrünnigkeit». Doch wie wir bereits sagten, sind Gruppentreue und Arbeitsteilung kein evolutionäres Spiel. Die Arbeiterinnen haben nicht die Wahl zwischen verschiedenen Spielzügen. Ist die Eusozialität stabil eingerichtet, so sind sie Erweiterungen vom Phänotyp der Königin, also alternative Expressionen von deren persönlichen Genen und denen des Männchens, mit dem sie sich gepaart hat. Im Grunde sind die Arbeiterinnen Roboter, die die Königin nach ihrem Bild geschaffen hat, um mit ihrer Hilfe mehr Königinnen und Männchen hervorzubringen, als es ihr als solitärem Tier möglich wäre.
Erweist sich diese Ansicht als richtig, und ich glaube, dafür sprechen sowohl die Logik als auch die Befunde, dann lassen sich Herkunft und Evolution eusozialer Insekten als Prozesse interpretieren, die von der natürlichen Selektion auf Individualebene vorangetrieben werden. Am besten lassen sie sich von Königin zu Königin, von Generation zu Generation verfolgen; die Arbeiterinnen jeder Kolonie sind dabei phänotypische Erweiterungen der Königin-Mutter. Die Königin und ihre Nachkommen werden häufig als Superorganismus bezeichnet, aber genauso gut könnte man sie einfach einen Organismus nennen. Die Arbeiterin einer Wespen- oder Ameisenkolonie, die uns angreift, wenn wir ihr Nest stören, ist ein Produkt des Genoms der Königin-Mutter. Die defensive Arbeiterin ist Teil vom Phänotyp der Königin, so wie Zähne und Finger Teil unseres Phänotyps sind.
Dieser Vergleich scheint auf den ersten Blick zu hinken. Natürlich hat die eusoziale Arbeiterin einen Vater und eine Mutter, und daher unterscheidet sich ihr Genotyp teilweise von dem der Königin-Mutter. Jede Kolonie enthält eine gewisse Bandbreite von Genomen, während die Zellen eines konventionellen Organismus Klone sind und ausschließlich das eine Genom aus der befruchteten Eizelle des Organismus darstellen. Jedoch ist der Prozess der natürlichen Selektion mit der einzigen Ebene biologischer Organisation, auf der sie wirkt, im Wesentlichen gleichzusetzen. Jeder von uns ist ein Organismus aus gut miteinander integrierten diploiden Zellen. Genauso verhält es sich bei einer eusozialen Kolonie. Beim Wachstum unseres Gewebes wurde die molekulare Maschinerie jeder Zelle entweder an- oder abgeschaltet, um etwa einen Finger oder einen Zahn herauszuformen. Genauso werden die eusozialen Arbeiterinnen, die unter dem Einfluss der Pheromone von Koloniegenossinnen und anderen Umweltfaktoren zu adulten Insekten heranwachsen, zur Ausbildung einer bestimmten Kaste angeleitet. Das Individuum führt dann eine einzelne oder eine Folge von Aufgaben aus einem Repertoire möglicher Aufgaben aus, die in den kollektiven Gehirnen der Arbeiterinnen angelegt sind. Eine Zeitlang,
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