Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
normalerweise Altruismus zwischen den Koloniemitgliedern. Betrüger können sich innerhalb einer Kolonie eventuell durchsetzen, indem sie sich entweder einen höheren Anteil an den Ressourcen verschaffen, gefährliche Aufgaben meiden oder Regeln brechen; Kolonien von Betrügern aber sind Kolonien aus kooperierenden Mitgliedern unterlegen. Wie straff organisiert und reguliert eine Kolonie ist, hängt davon ab, wie viele Kooperatoren und wie viele Betrüger sie enthält; und das wiederum beruht sowohl auf der Stammesgeschichte der Art als auch darauf, wie stark Individualselektion oder Gruppenselektion jeweils gewirkt haben.
Merkmale (Ziele), an denen ausschließlich die Selektion zwischen Gruppen angreift, sind solche, die sich aus dem Zusammenspiel der jeweiligen Gruppenmitglieder ergeben. Das trifft auf Kommunikation zu, auf Arbeitsteilung, Dominanz und die Kooperation bei der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben. Verschafft die Qualität dieses Zusammenspiels der Kolonie einen Vorteil im Vergleich zu Kolonien, die anders oder weniger stark zusammenspielen, so verbreiten sich in der Population der Kolonien mit jeder Koloniegeneration die Gene, die diesen Handlungen zugrunde liegen.
Das Gegeneinander von Individual- und Gruppenselektion führt bei den Mitgliedern einer Gesellschaft zu einer Mischung aus Altruismus und Egoismus, von Tugend und Sünde. Widmet ein Koloniemitglied sein Leben dem Dienst und nicht der Partnerschaft, so nützt dieses Individuum der Gesellschaft, obwohl es keine persönlichen Nachkommen hat. Ein Soldat, der in die Schlacht zieht, nützt seinem Land, aber er begibt sich in größere Lebensgefahr als einer, der zu Hause bleibt. Ein Altruist nützt der Gruppe; ein Faulenzer oder Feigling dagegen, der seine eigene Energie spart und seine körperlichen Risiken einschränkt, überträgt die entsprechenden sozialen Kosten auf andere.
Ein zweites biologisches Phänomen, dessen Verständnis für die Evolution fortgeschrittenen Sozialverhaltens unabdingbar ist, ist die phänotypische Plastizität . Betrachten wir einen Phänotyp, also ein Merkmal eines Organismus, das zumindest teilweise von dessen Genen festgelegt wird. Um zum vorigen Beispiel zurückzukehren: Phänotypisch ist die Neigung eines Vogels, entweder in Eichen oder in Kiefern zu nisten. Betrachten wir nun den Genotyp, also die Gene, die die Neigung zu Eichen oder Kiefern vorgeben, in diesem Fall die bereits erwähnten Allele a oder b . Ein phänotypisches Merkmal, das von einem bestimmten Genotyp festgelegt wird, kann in seiner Ausbildung starr sein – wir haben immer fünf Finger an einer Hand und eine definierte Augenfarbe. Die Ausbildung eines Genotyps kann aber auch flexibel sein: Dann hängt die genaue Expression vorhersagbar von der Umwelt ab, in der sich ein Individuum entwickelt. Das Allel b schreibt vielleicht eine Neigung zu Kiefern vor, aber unter einigen Bedingungen – die durchaus selten sein können – entscheidet der Träger sich doch für Eichen.
17.2 Beim Wasserhahnenfuß (Ranunculus aquatilis) beobachten wir extreme phänotypische Plastizität: Die Blattform hängt von der Lage des Blattes ab.
Selbst unter manchen Biologen findet freilich nicht genug Beachtung, in welchem Ausmaß der Grad der phänotypischen Plastizität selbst der natürlichen Selektion unterworfen ist. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Wasserhahnenfuß. Derselbe Genotyp kann zur Ausbildung einer von zwei Blattformen führen, je nachdem, auf welcher Pflanze oder welchem Pflanzenteil sie wächst: breite, tief gezähnte Schwimmblätter auf der Wasseroberfläche und haarförmig zerteilte Tauchblätter unter Wasser. Beide Blatttypen werden von derselben Pflanze ausgebildet. Und wenn ein Blatt genau an der Wasseroberfläche wächst, so ist der Teil über Wasser breit und der unter Wasser haarförmig zerteilt.
Drittens müssen wir für unsere Überlegungen zur Evolution durch natürliche Selektion noch einen entscheidenden Unterschied machen zwischen proximater Kausalität , also der Frage, wie eine Struktur oder ein Prozess funktioniert, und ultimater Kausalität , also der Frage, warum die Struktur oder der Prozess überhaupt existiert. Stellen wir uns wieder unsere Waldvögel vor, die für ihren Nistplatz von Eichen auf Kiefern umschalten. Proximate Ursache für diese Evolution ist der Besitz von Allel b , der sie dazu prädisponiert, Kiefern und nicht Eichen zu wählen. Genauer gesagt schreibt das Allel b die Entwicklung des endokrinen und des
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