Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
dort aus geht die visuelle Information weiter zu den verarbeitenden Zentren im primären visuellen Cortex und in anderen Gehirnregionen.
20.3 Das Berlin/Kay-Experiment weist nach, dass die angeborene Wahrnehmung der Primärfarben die Evolution des Farbvokabulars steuert. Muttersprachler konzentrieren ihre Bezeichnungen dort, wo die Farbwahrnehmung bei veränderter Lichtwellenfrequenz am stabilsten ist.
In eine radikal andere Kategorie gehört ein zweiter Fall der Gen-Kultur-Koevolution, der ebenso gut untersucht wurde: das Vokabular für Farben.[ 13 ] Der gesamte Weg von den Genen, die die Farberkennung festlegen, bis zur abschließenden sprachlichen Umsetzung der Farberkennung wurde von Wissenschaftlern nachgezeichnet.
In der Natur gibt es keine Farben – zumindest nicht in der Form, in der wir sie sehen. Sichtbares Licht besteht aus kontinuierlich variierenden Wellenlängen, die an sich keine Farbe enthalten. Erst die lichtempfindlichen Zapfenzellen auf der Netzhaut und die damit verbundenen Nervenzellen im Gehirn bewirken die Farbsicht. Als Erstes wird dabei die Lichtenergie von drei unterschiedlichen Pigmenten in einem Typ Rezeptorenzellen, den Zapfen, absorbiert; je nachdem, welche lichtempfindlichen Pigmente diese enthalten, werden sie als blaue, grüne und rote Zellen klassifiziert. Die molekulare Reaktion, die die Lichtenergie auslöst, wird in elektrische Signale umgewandelt, und diese werden an die retinalen Ganglienzellen übermittelt, die den Sehnerv bilden. Die Informationen über die Wellenlängen werden hier so rekombiniert, dass sich die entstehenden Signale auf zwei Achsen verteilen. Das Gehirn wird später die eine Achse als Grün bis Rot und die andere als Blau bis Gelb interpretieren, wobei Gelb als Mischung aus Grün und Rot definiert ist. Eine bestimmte Ganglienzelle wird also etwa durch einen Input von roten Zapfen erregt und durch einen Input von grünen Zapfen gehemmt. Aus der Stärke des elektrischen Signals, das sie dann übermittelt, kann das Gehirn erschließen, wie viel Rot oder Grün die Netzhaut empfängt. Solche Informationen aus sehr vielen Zapfen und vermittelnden Ganglienzellen werden gesammelt an das Gehirn weitergeleitet, und zwar über die Sehnervenkreuzung an die seitlichen Kniehöcker im Zwischenhirn, wo dicke Bündel von Nervenzellen etwa in der Mitte des Gehirns eine Relaisstation bilden. Von dort gehen die Informationen an die Zellanordnungen des primären visuellen Cortex, der Sehrinde ganz hinten im Gehirn.
Innerhalb von Millisekunden breitet sich die nunmehr farbcodierte visuelle Information in verschiedene Hirnbereiche aus. Wie das Gehirn reagiert, hängt vom Input weiterer Informationen und von den dadurch geweckten Erinnerungen ab. Ergeben etwa sehr viele solche Kombinationen ein bestimmtes Muster, so bewirkt dies, dass die Person Wörter denkt, die dieses Muster benennen, etwa: «Das ist die amerikanische Flagge; ihre Farben sind Rot, Weiß und Blau.» Wer die menschliche Natur für etwas ganz Selbstverständliches hält, führe sich den Vergleich mit der Tierwelt vor Augen: Ein vorbeifliegendes Insekt würde ganz andere Wellenlängen empfangen und sie in andere Farben aufbrechen – oder je nach Spezies auch nicht –, und wenn es irgendwie sprechen könnte, würden sich seine Worte nur schwer in unsere übersetzen lassen. Seine Flagge sähe sehr anders aus als unsere, weil sie der Natur des Insekts (und nicht der des Menschen) folgt. «Das ist die Ameisenflagge; ihre Farben sind ultraviolett und grün» (Ameisen können im Gegensatz zu uns Ultraviolett sehen, dafür aber kein Rot).
Der chemische Aufbau der drei Zapfenpigmente – also der Aminosäuren, aus denen sie bestehen, und der Form, in die sich deren Ketten auffalten – ist bekannt; ebenso die DNA-Struktur in den Genen auf dem X-Chromosom, die dafür codieren, sowie die Struktur der Genmutationen, die Farbenblindheit verursachen.
Über vererbte und relativ gut verstandene molekulare Prozesse zerlegen also das sensorische System des Menschen und das Gehirn die kontinuierlich variierenden Wellenlängen des sichtbaren Lichts in ein Feld mehr oder weniger abgegrenzter Einheiten, das wir als Farbspektrum bezeichnen. Nach streng biologischen Begriffen ist diese Anordnung völlig willkürlich, denn sie ist nur eine von vielen, die sich in den letzten Jahrmillionen hätten entwickeln können. In kulturellen Begriffen dagegen ist sie keineswegs willkürlich, denn nachdem sie genetisch evolviert wurde, lässt
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