Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
sie sich weder durch Lernen noch per Erlass verändern. Alle menschlichen Kulturmerkmale, die mit Farbe zu tun haben, leiten sich von diesem einheitlichen Prozess ab. Als biologisches Phänomen korreliert die Farbwahrnehmung mit der Wahrnehmung der Lichtintensität, neben der Frequenz die zweite Grundeigenschaft des sichtbaren Lichts. Variieren wir graduell die Lichtintensität, etwa indem wir einen Lichtschalter langsam auf- oder abdimmen, so nehmen wir die Veränderung als den kontinuierlichen Prozess wahr, der er tatsächlich ist. Verwenden wir aber monochromatisches Licht, also immer nur Licht einer einzigen Wellenlänge, und verändern graduell die Wellenlänge, so nehmen wir diese Kontinuität so nicht wahr. Gehen wir über die gesamte Skala von den Kurz- zu den Langwellen, dann sehen wir zuerst einen breiten Streifen Blau (oder zumindest wird er mehr oder weniger als Blau wahrgenommen), dann Grün, dann Gelb und schließlich Rot. Dazu kommen noch Weiß, das in der Kombination der Farben entsteht, und Schwarz, wenn gar kein Licht vorhanden ist.
Das Aufkommen von sprachlichen Farbbezeichnungen unterlag weltweit denselben biologischen Zwängen. In einem berühmten Experiment untersuchten in den 1960er Jahren Brent Berlin und Paul Kay die Farbbegriffe bei den Sprechern von 20 Sprachen, darunter Arabisch, Bulgarisch, Kantonesisch, Katalanisch, Hebräisch, Ibibio, Tzeltal und Urdu.[ 14 ] Die Testpersonen sollten ihr Farbvokabular dabei direkt und präzise beschreiben. Sie bekamen eine Munsell-Farbtafel vorgelegt, eine Verteilung von Plättchen, von links nach rechts durch die Varianten des Farbspektrums und von unten nach oben nach Helligkeit sortiert. Nun sollten sie für die wichtigsten Farbbegriffe ihrer Muttersprache jeweils ein Kärtchen auf dasjenige Farbplättchen legen, das der Bedeutung des Wortes am nächsten kam. Obwohl die Begriffe von einer Sprache zur anderen in Wortstamm und Lautbild erheblich variierten, häuften sich die Kärtchen der verschiedenen Sprecher im Farbspektrum bei den Plättchen, die zumindest ungefähr den Grundfarben Blau, Grün, Gelb und Rot entsprachen.
Wie stark diese Wahrnehmung das Lernen beeinflusst, zeigte sich sehr deutlich an einem Experiment zur Farbwahrnehmung, das Eleanor Rosch Ende der 1960er Jahre vornahm.[ 15 ] Auf ihrer Suche nach «natürlichen Kategorien» der Kognition nutzte sie die Tatsache, dass das Volk der Dani auf Neuguinea keine Wörter kennt, um Farben zu benennen; sie verwenden nur die Wörter mili (etwa für «dunkel») und mola («hell»). Rosch stellte folgende Frage: Fällt es erwachsenen Dani leichter, ein Farbvokabular zu erlernen, wenn die Farbbezeichnungen dem angeborenen Farbempfinden entsprechen? Anders gefragt, würde eine kulturelle Innovation in gewissem Ausmaß von den genetischen Bedingungen kanalisiert? Rosch teilte 68 freiwillige männliche Probanden der Dani in zwei Gruppen ein. Sie brachte einer Gruppe eine Reihe frei erfundener Farbbezeichnungen bei und benannte damit die wichtigsten Farbtöne im Spektrum (Blau, Grün, Gelb, Rot), für die die anderen Kulturen am häufigsten natürliche Vokabeln kennen. Der zweiten Gruppe brachte sie eine Reihe erfundener Bezeichnungen bei, die dezentral lagen, also von den Stellen abwichen, an denen sich Bezeichnungen in anderen Sprachen häufen. Die erste Versuchsgruppe, die der «natürlichen» Neigung der Farbwahrnehmung folgte, lernte etwa doppelt so schnell wie die Gruppe, die die weniger natürlichen Farbbezeichnungen übernehmen sollte. Außerdem entschieden sie sich eher für diese Bezeichnungen, wenn sie die Wahl hatten.
Es blieb die Frage übrig, die beantwortet werden muss, wenn wir den Übergang von den Genen zur Kultur vollständig erfassen wollen. Dass die Farbsicht genetisch bedingt ist und dass sie sich auf das Farbvokabular erheblich auswirkt, war bewiesen – aber wie stark streuten sich die Merkmale in den verschiedenen Kulturen? Zumindest teilweise können wir die Frage beantworten. Im Westermarck-Effekt und der sich daraus ergebenden Inzestvermeidung stimmen alle Gesellschaften fast vollständig überein. Farbbezeichnungen dagegen unterscheiden sich erheblich voneinander. Einige Gesellschaften kümmern sich kaum um Farbe und begnügen sich mit einer rudimentären Klassifizierung. Andere unterscheiden innerhalb der Grundfarben sehr fein nach Farbton und -intensität. Sie haben ihr Vokabular klar untergliedert.
War diese Untergliederung von Farbbezeichnungen zufällig? Ganz
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