Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
offenbar nicht. Bei späteren Untersuchungen beobachteten Berlin und Kay, dass jede Gesellschaft zwei bis elf Bezeichnungen für Grundfarben kennt, die Schwerpunkte in den vier grundlegenden Farbblöcken aus der Munsell-Tafel bilden. Vollständig sind das, mit deutschen Bezeichnungen: schwarz, weiß, rot, gelb, grün, blau, braun, lila, rosa, orange und grau. Jede dieser Bezeichnungen lässt sich in allen Kulturen mit einer der elf Farbbezeichnungen oder mit einer Kombination davon gleichsetzen. Sagen wir zum Beispiel «rosa», dann gibt es in einer anderen Sprache eine gleichbedeutende Bezeichnung oder zum Beispiel eine Bezeichnung, die für uns «rosa» und/oder «orange» bedeutet. Die Sprache der Dani zum Beispiel kennt wie gesagt nur zwei der Bezeichnungen, das Englische und das Deutsche alle elf. Geht man von Gesellschaften mit einfachen zu solchen mit komplizierten Klassifikationen, so wächst die Palette der Grundbegriffe für Farben regelmäßig nach folgender Hierarchie an:
Sprachen mit nur zwei Grundbegriffen für Farben verwenden diese zur Unterscheidung von Schwarz und Weiß.
Sprachen mit nur drei Grundbegriffen haben Wörter für Schwarz, Weiß und Rot.
Sprachen mit nur vier Grundbegriffen haben Wörter für Schwarz, Weiß, Rot und entweder Grün oder Gelb.
Sprachen mit nur fünf Grundbegriffen haben Wörter für Schwarz, Weiß, Rot, Grün und Gelb.
Sprachen mit nur sechs Grundbegriffen haben Wörter für Schwarz, Weiß, Rot, Grün, Gelb und Blau.
Sprachen mit nur sieben Grundbegriffen haben Wörter für Schwarz, Weiß, Rot, Grün, Gelb, Blau und Braun.
Die übrigen vier Grundfarben (Lila, Rosa, Orange und Grau) treten ohne eine solche feste Abfolge zu den ersten sieben hinzu.
Würden Grundbegriffe für Farben in jeder Sprache zufällig gewählt, was eindeutig nicht der Fall ist, so würden sich die menschlichen Farbvokabulare beliebig aus den 2036 mathematisch möglichen Kombinationen zusammensetzen. Die Berlin-Kay-Progression beweist, dass sie zum überwiegenden Teil nur aus 22 Kombinationen bestehen.
Neuere Arbeiten haben bestätigt, dass die elf Grundwörter für Farben wirklich existieren, und zwar so, dass die Wörter einer Sprache sich mit denen aus anderen Sprachen gleichsetzen lassen – sei es eins zu eins, viele zu eins oder eins zu viele. Wo genau die Begriffe sich innerhalb jeder der Hauptfarben situieren, ist je nach Sprache verschieden. Die Platzierung hängt ganz offenbar davon ab, wie wichtig die Farbe an der Stelle des Schwerpunktbereichs ist, an der sie liegt. Weiterhin ist entscheidend, wie klar die Lage die Grundfarbe von der benachbarten Farbe unterscheidet.
Eine Grundfrage zur Gen-Kultur-Koevolution im Spannungsfeld zwischen Farbkategorien und Sprache lautet, inwieweit sich beide gegenseitig beeinflussen. Nach der viel beachteten Hypothese, die Benjamin Lee Whorf Ende der 1930er Jahre vertrat, dient Sprache nicht nur dazu, unsere Wahrnehmungen vom Rest der Welt mitzuteilen, sondern sie beeinflusst auch, was wir überhaupt wahrnehmen. Für das Gebiet der Farbbezeichnungen kommt man in der Forschung heute zu der gemäßigten Ansicht, dass das Gehirn echte Farben in gewisser Hinsicht durchaus filtert und verzerrt, ihre Kategorien aber nicht allein festlegt.[ 16 ]
Direkte Belege für das Verhältnis von Farbe und Sprache ergaben kürzlich Kernspin-Untersuchungen von Gehirnaktivitäten.[ 17 ] Die Wahrnehmung von Farbkategorien korreliert stärker mit dem rechten Gesichtsfeld des Gehirns. Wurden Probanden mehrere Sequenzen von Farbkategorien gezeigt, so war – wie zu erwarten – das Muster ihrer Gehirnaktivität im rechten Gesichtsfeld für Farben in unterschiedlichen Farbkategorien stärker als für Farben in derselben Farbkategorie. Unterschiedliche Farbkategorien lösten aber auch eine stärkere Aktivierung in der Sprachregion der linken Gehirnhälfte aus. Diese Daten legen nahe, dass die Sprachregion in gewissem Ausmaß eine Top-down-Kontrolle über die Aktivität auf der Sehrinde ausübt.
Die Evolutionsbiologie dagegen lotet inzwischen die Frage aus, warum menschliche Kulturen generell eine bestimmte Abfolge von Farbkategorien auswählen, wenn sie neue Bezeichnungen in ihr Vokabular aufnehmen. Eine vielversprechende Lösung könnte die Dominanz der Farbe Rot sein, die deshalb in der evolutionären Sequenz sehr früh auftaucht. Nach André A. Fernandez und Molly R. Morris lautet eine ähnliche Erklärung, dass Rot und Orange Farben sind, die für Früchte typisch
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