Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
praktizierten beide die erlernte Technik weiter. Bald schon begann eine große Mehrheit ihrer Gruppengefährten dieselbe Methode zu nutzen, um den Behälter zu öffnen. Vielleicht imitierten sie dabei direkt die «Lehrerin», aber es ist auch denkbar, dass die «Schüler» lernten, indem sie die Mechanik des Futterautomaten untersuchten. Würde sich Letzteres bestätigen, so könnten weitere Untersuchungen ergeben, dass sich das soziale Lernen beim Schimpansen stark von dem des Menschen unterscheidet.[ 20 ]
Auch bei Orang-Utans und bei Delfinen wurde das Vorhandensein einer authentischen Kultur überzeugend dokumentiert. Ein eindrucksvolles Beispiel für Innovation und kulturelle Transmission bei Delfinen sind die Großen Tümmler in der australischen Shark Bay, die zum Fischen Schwämme verwenden.[ 21 ] Eine kleine Minderheit ihrer Weibchen stülpt sich dabei ein Stück Schwamm über die Schnauze und durchkämmt damit die engen Verstecke von Fischen zwischen den Sandbänken der Bucht. Dass Delfine Kultur besitzen, sollte nicht besonders überraschen. Sie gehören zu den intelligentesten Tieren überhaupt und rangieren dabei direkt hinter den Affen. Da Delfine in ihren sozialen Interaktionen zudem hochimitativ sind, scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Innovatoren aus der Shark Bay tatsächlich kulturelle Transmission praktizieren. Warum aber sind dann Delfine und andere Wale mit großen Gehirnen, deren Evolution Millionen von Jahren zurückreicht, in der sozialen Evolution nicht weiter fortgeschritten? Drei Gründe zeichnen sich ab: Anders als Primaten haben sie keine Nester oder Lagerstätten. Ihre vorderen Gliedmaßen sind Flossen. Und in ihrem Wasserreich ist ihnen der Einsatz kontrollierten Feuers für immer versagt.
Um eine Kultur zu entwickeln, ist ein Langzeitgedächtnis unabdingbar, und in dieser Fähigkeit ist der Mensch allen anderen Tieren weit überlegen. Die Unmengen von Erinnerungen in unserem übergroßen Vorderhirn machen uns zu vollendeten Geschichtenerzählern. Wir speichern Träume und gesammelte Erfahrungen eines ganzen Lebens und nutzen sie, um Szenarien für Vergangenheit und Zukunft zu entwerfen. Wir leben in unserem Bewusstsein mit den Folgen unseres Handelns, ob sie real sind oder nur vorgestellt. Indem wir unsere inneren Geschichten in alternative Versionen auslagern, können wir Wünsche, die wir eigentlich sofort befriedigen möchten, zugunsten von aufgeschobenem Vergnügen zurückstellen. Durch langfristiges Planen beschwichtigen wir zumindest zeitweilig das Drängen unserer Emotionen. Dieses Innenleben ist der Grund dafür, dass jeder Mensch einzigartig und wertvoll ist. Bei seinem Tod erlischt eine ganze Bibliothek von Erfahrungen und Vorstellungen.
Wie viel aber löscht der Tod wirklich aus? Ich glaube, ich kann das ganz gut ermessen. Gelegentlich schließe ich die Augen und kehre in Gedanken zurück nach Mobile und an die nahe Golfküste im Alabama der 1940er Jahre. Wenn ich erst da bin, fahre ich wieder als kleiner Junge auf meinem Schwinn-Fahrrad mit Ballonreifen und ohne Gangschaltung von einem Ende des Landkreises zum anderen. Und rasch kommen mir Einzelheiten in den Sinn. Ich erinnere mich lebhaft an meine ausgedehnte Familie, jeder mit seiner persönlichen Clique, jeder mit Erinnerungen, die er oder sie zum Teil mit anderen teilt. Nach ihrem eigenen Empfinden lebten sie im Zentrum der Welt und im Zentrum der Zeit. Sie lebten, als würde das Mobile von damals sich nie großartig verändern. Auf alles kam es an, auf jedes Detail, zumindest eine Zeitlang. Irgendwie war in der einen oder anderen Form alles, woran sie sich kollektiv erinnerten, für irgendjemanden von Belang. Heute sind diese Menschen alle weg. Fast alles, was ihr umfangreiches kollektives Gedächtnis enthielt, ist vergessen. Ich weiß, dass bei meinem Tod meine Erinnerungen und mit ihnen diese frühere Welt und das umfassende Wissen, das sie enthielt, auch weg sein werden. Aber ich weiß auch, dass all diese Netzwerke und diese ganze Bibliothek der Erinnerungen, selbst wenn sie vergehen, doch für einen Teil der Menschheit lebensnotwendig waren. Um ihretwillen habe ich gelebt und gearbeitet.
Auch Tiere haben ein Langzeitgedächtnis, das ihnen zum Überleben sehr nützlich ist. Tauben können sich bis zu 1200 Bilder merken. Der Kiefernhäher, ein Vogel, der wie Eichhörnchen Samenvorräte anlegt, erinnerte sich in Laborstudien an bis zu 25 Verstecke in einem Raum mit 69 Verstecken, und das über ganze 285
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