Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
gemacht für das Leben der Art als Großwildjäger. Mit Sicherheit waren die Neandertaler viel unterwegs, wie es bei Fleischfressern zu erwarten ist. Sie kochten Fleisch, räucherten es vielleicht, trugen Kleidung und wärmten sich in bitterkalten Wintern in ihren dürftigen Lagern mit Hilfe des Feuers. Seit der kürzlich erfolgten Sequenzierung ihres Genoms, für sich schon eine außerordentliche wissenschaftliche Leistung, wissen wir, dass sie das FOXP2-Gen besaßen, das mit der Sprachfähigkeit assoziiert wird, und das in einer bestimmten Codierungssequenz, die sie nur mit dem Homo sapiens teilten. Es kann also gut sein, dass sie eine Sprache hatten. Bei erwachsenen Neandertalern war das Gehirn durchschnittlich etwas größer als beim Homo sapiens . Zudem wuchs das Gehirn ihrer Babys und Kinder schneller als beim Homo sapiens .[ 26 ]
21.4 Die schier grenzenlose Komplexität des menschlichen Gehirns wird vorstellbar bei diesem Modell der 100.000 Neurone in einem Schnitt (0,5 mm × 2 mm) eines zwei Wochen alten Nagetier-Gehirns. Solche Einheiten wiederholen sich im menschlichen Gehirn mehrere Millionen Mal.
Die Neandertaler faszinieren in jeder Hinsicht als weitere menschliche Art parallel zum Homo sapiens – ein Experiment der Evolution, mit dem wir unsere eigene Evolution vergleichen können. Das Interessanteste an ihnen ist aber vielleicht nicht, was sie waren, sondern was sie nicht geworden sind. In ihrer Technologie und Kultur gab es in den 200.000 Jahren ihrer Existenz im Grunde keinen Fortschritt. Keine Tüftelei bei der Werkzeugherstellung, keine Kunst, keinen persönlichen Schmuck – zumindest findet sich nichts davon in den bisher bekannten archäologischen Funden.[ 27 ]
Tabelle 21.1 Die Kulturen verschiedener wild lebender Schimpansengruppen in Afrika definieren sich über die Kombination ihres sozial erlernten Verhaltens.
21.5 Die Mammutsteppe, Schauplatz der kreativen Kulturexplosion, existiert noch in den Wiesentälern und Bergwäldern wie diesen Landschaften im heutigen Arctic National Wildlife Refuge. In der Eiszeit wanderte der frühe Homo sapiens durch Eurasien, immer südlich des Kontinentalgletschers, jagte große Tiere und ersetzte seine Schwesterart Homo neanderthalensis .
Unterdessen preschte der Homo sapiens vorwärts, und etwa zu der Zeit, als die Neandertaler von der Bühne gingen, blühten die kognitiven Leistungen des Homo sapiens geradezu auf. Die erste Population drang vor etwa 40.000 Jahren an der Donau entlang nördlich ins europäische Binnenland vor. 10.000 Jahre später gab es schon die ersten Innovationen, die die Spätaltsteinzeit prägten: elegante darstellende Höhlenmalerei; Bildhauerei, darunter ein Löwenkopf auf einem menschlichen Körper; Knochenflöten; kontrollierte Waldbrände mit Pferchen, um Wild zu lenken und zu fangen; verkleidete Schamanen.
Was katapultierte den Homo sapiens auf dieses Niveau? Die Fachleute sind sich einig, dass ein verbessertes Langzeitgedächtnis, insbesondere im Arbeitsgedächtnis, und damit die Fähigkeit, Szenarien zu entwerfen und in kurzen Zeiträumen Strategien zu planen, dafür ausschlaggebend waren, und das in Europa und anderswo und sowohl vor als auch nach der Auswanderung aus Afrika. Welche Triebkraft führte zur Schwelle der komplexen Kultur? Offensichtlich war es die Gruppenselektion. Eine Gruppe, deren Mitglieder Absichten verstehen und miteinander kooperieren konnten und außerdem in der Lage waren, die Handlungen der konkurrierenden Gruppen abzusehen, hätte einen außerordentlichen Vorsprung vor Gruppen gehabt, die darin weniger begabt waren. Zweifellos bestand Wettbewerb zwischen den Gruppenmitgliedern und führte zur natürlichen Selektion von Merkmalen, die einem Individuum einen Vorteil über ein anderes gab. Wichtiger für eine Art, die unter sich verändernden Umweltbedingungen mit mächtigen Rivalen konkurrierte, waren aber Zusammenhalt und Kooperation innerhalb der Gruppe. Moralität, Konformität, Religiosität und Kampffähigkeit in Kombination mit Vorstellungskraft und Gedächtnis kürten schließlich den Sieger.[ 28 ]
23.
DIE EVOLUTION DER KULTURVIELFALT
Die Gen-Kultur-Koevolution, also der Einfluss der Gene auf die Kultur und umgekehrt der Kultur auf die Gene, ist ein Prozess, der für die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften von gleichrangiger Bedeutung ist. Über ihn lassen sich diese drei großen akademischen Fakultäten in ein Netz von Kausalitäten einbinden.
Wem dieser Anspruch allzu gewagt
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