Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Tage. Noch übertroffen werden diese beiden Vogelarten, wie nicht anders zu erwarten, von Pavianen. In Tests zeigte sich, dass diese sichtlich intelligenten Primaten mindestens 5000 Einheiten memorisieren können und diese mindestens drei Jahre lang behalten.[ 22 ] Das Langzeitgedächtnis des Menschen ist wiederum sehr viel größer als das jedes sonst bekannten Tieres. Meines Wissens wurde bisher keine Methode entwickelt, um seine Kapazität beim Individuum auch nur in gröbster Näherung zu messen.
Die großartige Gabe des bewussten menschlichen Gehirns ist die Fähigkeit – und damit der unwiderstehliche, angeborene Trieb – zum Entwerfen von Szenarien. Für jede Geschichte wiederum nutzt das Bewusstsein nur einen winzigen Bruchteil des Langzeitgedächtnisses. Wie das genau vor sich geht, bleibt umstritten. Für die einen Neurowissenschaftler werden Fragmente des Langzeitgedächtnisses aus dem Langzeitspeicher umgeformt und gerinnen im Arbeitsgedächtnis zu Szenarien. Nach Ansicht einer zweiten Schule, die mit denselben Messwerten arbeitet, beruht der Prozess lediglich auf dem Wiederabrufen von Langzeiterinnerungen – ohne Transfer von einem Gehirnsektor in einen anderen.
Klar ist jedenfalls, dass innerhalb von relativ kurzen drei Millionen Jahren der Evolution die Gattung Homo etwas hervorbrachte, was keine andere Tierart je auch nur im Ansatz schaffte: einen Gedächtnisspeicher in einer überdimensionierten Hirnrinde aus über zehn Milliarden Neuronen, wobei jedes Neuron im Schnitt über 10.000 Verzweigungen mit anderen Nervenzellen verbunden ist. Diese Verdrahtungen, die Grundeinheiten des Hirngewebes, bilden komplizierte Wege aus Nervenbahnen und integrierenden Schaltstellen. Netzwerke aus Nervenbahnen und Schaltstellen, die sogenannten Module, organisieren sämtliche Instinkte und Erinnerungen des menschlichen Gehirns.[ 23 ]
Zunächst stellte die unglaubliche Komplexität der Gehirnarchitektur eine große Schwierigkeit dar, um die theoretischen Modelle der Genetik auf die Evolutionstheorie anzuwenden. Das menschliche Genom umfasst lediglich 20.000 Protein-codierende Gene. Von ihnen steuert nur ein Bruchteil unser Sinnes- und Nervensystem. Es ergibt sich also folgendes Problem: Wie kann eine derart komplizierte Zellarchitektur von so wenigen Genen überhaupt programmiert werden?
Das Dilemma der Genknappheit wurde durch ein Konzept aus der Entwicklungsgenetik gelöst.[ 24 ] Zahlreiche Module, so die Forschungsergebnisse, lassen sich über Anweisungen aufbauen, die zunächst nach einem einheitlichen Programm repliziert werden; danach greifen getrennte Programme (und getrennte Gene), unter deren Steuerung jedes Modulgewebe sich je nach Lage im Gehirn spezialisiert. Eine weitere Spezialisierung kann dann der Input erwirken, der aus der außergehirnlichen Umwelt eingeht. Um einen einfachen Vergleich zu nennen: Ein Tausendfüßer braucht nicht Tausende von Genen, um die biologische Entwicklung seiner sprichwörtlich tausend Beinpaare zu steuern. Dafür genügen schon ein paar wenige. Wir wissen noch längst nicht alles über die genetische Steuerung der Hirnentwicklung, aber zumindest theoretisch ist erwiesen, dass die menschlichen Gene dazu in der Lage sind.
Da das Rätsel um die genetische Codierung für die Entwicklung des menschlichen Gehirns grundsätzlich geklärt ist, können wir uns dem Aufkommen von Geist und Sprache zuwenden. Längst glauben Naturwissenschaftler nicht mehr an die Vorstellung vom Gehirn als leerem Blatt, auf dem die gesamte Kultur erst durch Lernen niedergeschrieben würde. Nach dieser archaischen Ansicht wäre die gesamte Leistung der Evolution lediglich eine außergewöhnliche Lernfähigkeit auf Grundlage der extrem ausgebildeten Kapazität des Langzeitgedächtnisses. Heute herrscht eine andere Ansicht vor: Das Gehirn verfügt über einen komplexen ererbten Aufbau. Auf diesem Fundament konnte als Produkt dieser Architektur das Bewusstsein entstehen, und zwar durch Gen-Kultur-Koevolution, ein kompliziertes Zusammenspiel genetischer und kultureller Evolution.
Gemeinsam mit Genetikern und Neurowissenschaftlern bemühen sich heute Archäologen darum, den evolutionären Ursprung von Sprache und Geist zu verstehen. Um die Schritte und zeitlichen Abläufe dieser schwer greifbaren Ereignisse nachzuzeichnen, begründeten sie eine neue Fachrichtung, die «kognitive Archäologie». Auf den ersten Blick mag eine derart hybride Disziplin wenig Erfolg versprechen. Schließlich sind außer
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