Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
engen Grenzen. Nur eine von einer Vielzahl möglicher Naturen konnte sich entwickeln. Unsere ist das Ergebnis des unwahrscheinlichen Wegs, den unsere genetischen Vorfahren über Millionen von Jahren zurückgelegt haben und an dessen Ende wir stehen. Erkennt man die menschliche Natur als Produkt dieser evolutionären Laufbahn, so entschlüsselt man die ultimaten Ursachen unserer Wahrnehmungen und Gedanken. Eine Gesamtschau dieser proximaten und ultimaten Ursachen ist der Schlüssel zum Selbstverständnis, der Spiegel, in dem wir uns selbst so sehen, wie wir wirklich sind, um danach die Welt außerhalb der engen Grenzen zu erforschen.
Suchen wir nach den ultimaten Ursachen für das Wesen des Menschen, so lassen sich die verschiedenen Ebenen der natürlichen Selektion in Anwendung auf das menschliche Verhalten nicht akkurat unterscheiden. Egoistisches Verhalten, vielleicht einschließlich Verwandtenselektion und dem daraus folgenden Nepotismus, kann in gewisser Hinsicht die Interessen der Gruppe durch Innovation und Unternehmergeist fördern. Als vor und nach der Auswanderung aus Afrika vor 60.000 Jahren letzte Hand an die kognitive Evolution gelegt wurde, gab es wahrscheinlich schon Vorläufer der Medicis, Carnegies und Rockefellers, die sich und ihre Familien auf eine Weise voranbrachten, dass auch ihre Gesellschaften davon profitierten. Die Gruppenselektion wiederum förderte die genetischen Interessen der Individuen mit Privilegien und hohem Status als Belohnung für außerordentliche Leistungen zum Vorteil des Stammes.
Trotz allem gilt in der genetischen Sozialevolution eine eiserne Regel. Demnach sind egoistische Individuen altruistischen Individuen überlegen, während Gruppen von Altruisten Gruppen von egoistischen Individuen überlegen sind. Der Sieg ist nie endgültig; das Gleichgewicht der Selektionsdrücke kann sich nie an eines der Extreme verlagern. Würde die Individualselektion dominieren, so würden sich die Gesellschaften auflösen. Bei einer Dominanz der Gruppenselektion würden die menschlichen Gruppen irgendwann Ameisenkolonien gleichen.
Jedes Mitglied einer Gesellschaft verfügt sowohl über Gene, an deren Produkten die Individualselektion, als auch über Gene, an denen die Gruppenselektion angreift. Jedes Individuum ist in ein Netzwerk mit anderen Gruppenmitgliedern eingebunden. Seine eigene Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit hängt zum Teil von seiner Interaktion mit den anderen Netzwerkteilnehmern ab. Verwandtschaft beeinflusst die Struktur des Netzwerkes, stellt aber nicht seinen entscheidenden Evolutionsantrieb dar, wie es die Gesamtfitness-Theorie fälschlich annimmt. Was zählt, ist vielmehr die ererbte Neigung, unendlich viele Bündnisse, Begünstigungen, Informationsflüsse und Betrügereien herauszubilden, die das tägliche Leben im Netzwerk bestimmen.
In der gesamten prähistorischen Zeit, als die Menschheit ihre kognitive Dominanz herausbildete, war das Netzwerk jedes Einzelnen im Grunde identisch mit dem der Gruppe, der er angehörte. Man lebte in verstreuten Verbänden von einhundert oder weniger Individuen (häufig waren wohl Verbände mit dreißig Mitgliedern). Sie wussten von benachbarten Verbänden, und aus der Lebensform heutiger Jäger und Sammler zu schließen, bildeten Nachbarn in gewissem Ausmaß Bündnisse. Sie praktizierten Handel und tauschten junge Frauen aus, waren aber auch in Rivalitäten und Rachefeldzüge verstrickt. Kern der sozialen Existenz jedes Einzelnen aber war der Verband, und dessen Zusammenhalt wurde durch die Kohäsionskraft des Netzwerks gestärkt, das er bildete.
Als in der Jungsteinzeit vor etwa 10.000 Jahren Dorfgemeinschaften und dann Stammesfürstentümer aufkamen, erfuhren die Netzwerke einen radikalen Wandel. Sie nahmen an Größe zu und zerbrachen in Segmente. Diese Untergruppen überlappten sich und wurden zugleich hierarchisch und durchlässig. Das Individuum lebte jetzt in einer bunten Mischung von Familienmitgliedern, Religionsgefährten, Mitarbeitern, Freunden und Fremden. Seine soziale Existenz war sehr viel weniger stabil als noch bei den Jägern und Sammlern. In den modernen Industrieländern sind die Netzwerke mittlerweile derart komplex, dass unser ererbter steinzeitlicher Geist davon völlig überfordert wird. Unsere Instinkte wünschen sich noch heute die überschaubaren, geeinten Banden-Netzwerke, die in vorgeschichtlicher Zeit über Hunderttausende von Jahren vorherrschten. Auf die Zivilisation sind unsere Instinkte
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