Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Bedeutung für das Verständnis des menschlichen Verhaltens derart unabweisbar ist. Die in die Gehirnbahnen eingebaute «Unschärferelation», die wahlweise durch Angst, mentalen Stress oder andere Emotionen ausgelöst werden kann, ermöglicht ein nahezu grenzenloses Spektrum ethisch akzeptabler Verhaltensentscheidungen. Pfaff illustriert diesen Prozess mit einem einleuchtenden Beispiel:
Die Theorie enthält vier Schritte. Im ersten Schritt erwägt eine Person eine bestimmte Handlung gegenüber einer anderen; Frau Abbott erwägt zum Beispiel, Herrn Besser mit einem Messer in den Bauch zu stechen. Bevor die Handlung umgesetzt wird, wird sie wie jede Handlung im Gehirn des planenden Täters repräsentiert. Für das andere Individuum wird sie Folgen haben, die der angehende Täter verstehen, voraussehen und memorisieren kann. Zweitens stellt Frau Abbott sich das Ziel dieser Handlung vor, Herrn Besser. Drittens folgt der entscheidende Schritt: Sie verwischt den Unterschied zwischen der anderen Person und sich selbst. Statt die Folgen ihrer Tat auf Herrn Besser und die grausigen Auswirkungen auf dessen Eingeweide zu beziehen, hebt sie die mentale und emotionale Trennung zwischen seinen Eingeweiden und ihren eigenen auf. Der vierte Schritt ist dann die Entscheidung. Es ist jetzt weniger wahrscheinlich, dass Frau Abbott Herrn Besser angreift, weil sie seine Angst teilt (oder genauer gesagt die Angst, die er hätte, wenn er wüsste, was sie vorhat).
Für den Neurowissenschaftler weist diese Erklärung einer ethisch begründeten Entscheidung der angehenden Messerstecherin ein sehr attraktives Merkmal auf: Es geht hier nur um den Verlust von Information und nicht um die aufwändige Aufnahme oder Speicherung neuer Information. Das Erlernen komplexer Informationen und ihre Speicherung im Gedächtnis sind willentliche, mühsame Prozesse, aber der Verlust von Informationen scheint ganz ohne Probleme vonstattenzugehen. Die Schwächung von irgendeinem der vielen Mechanismen, die am Gedächtnis mitwirken, kann die Verwischung der Identität erklären, die dieser Theorie zugrunde liegt. In dem Beispiel von Frau Abbott und Herrn Besser bewirkt diese Identitätsverwischung – eigentlich ein Individualitätsverlust –, dass die Angreiferin sich zeitweise in die andere Person hineinversetzt. Sie vermeidet eine unmoralische Handlung, weil sie die Angst des anderen teilt.
Sollte sich diese Erklärung für eine moralisch begründete Entscheidungsfindung erhärten, so wird sie sich auf das Verständnis der Evolutionsbiologie für die Gruppenselektion niederschlagen. Der Mensch neigt zur Moralität – das Richtige zu tun, sich zurückzuhalten, anderen zu helfen, manchmal sogar auf eigenes Risiko –, weil die natürliche Selektion diese Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern gefördert hat, insofern sie der Gruppe als Ganzem nützen.
Neben dem Aufkommen instinktiver Empathie kann die Gruppenselektion zumindest teilweise auch die Kooperation erklären, ein noch wichtigeres Merkmal der menschlichen Natur. 2002 umrissen Ernst Fehr und Simon Gächter das wissenschaftliche Problem ganz klar: «Menschliche Kooperation ist ein evolutionäres Rätsel. Anders als andere Lebewesen kooperieren Menschen häufig mit genetisch nicht verwandten Fremden, häufig in großen Gruppen, mit Menschen, denen sie nie wieder begegnen werden, und selbst wenn der Gewinn in Hinsicht auf die Fortpflanzung gering ausfällt oder ganz fehlt. Als Erklärung für diese Kooperationsmuster taugen weder die Evolutionstheorie der Verwandtenselektion noch die egoistischen Motive, die mit der Zeichentheorie oder der Theorie des reziproken Altruismus assoziiert werden.»[ 47 ]
Die Verwandtenselektion kann, wie ich bereits dargelegt habe, das besagte Paradox nicht klären. Es ist eventuell denkbar, dass sie in den Verbänden der frühen Jäger und Sammler funktioniert hätte, weil dort wegen der wenigen Beteiligten die Verwandtschaft zwischen den Gruppenmitgliedern relativ eng war. Doch mathematische Analysen haben gezeigt, dass die Verwandtenselektion an sich als Antriebskraft der Evolutionsdynamik unbrauchbar ist. Wenn eng verwandte Individuen zusammentreffen, so dass Kooperatoren mit höherer Wahrscheinlichkeit auf andere genetische Kooperatoren treffen, so wird dadurch das Aufkommen von Kooperation keineswegs automatisch gefördert. Nur die Gruppenselektion, bei der Gruppen mit mehr Kooperatoren gegen Gruppen mit weniger Kooperatoren antreten, kann zu einer Verschiebung
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