Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
erscheint, der betrachte nur die kulturelle Varianz zwischen Gesellschaften. Gemeinhin gilt die Annahme, wenn zwei Gesellschaften in derselben Kategorie unterschiedliche Kulturmerkmale aufweisen – etwa Monogamie vs. Polygamie oder aggressive Politik vs. friedfertige Politik –, dann muss die Evolution dieser Varianzmuster und sogar die Kategorie selbst vollständig auf kultureller Ebene abgelaufen sein, ohne dass die Gene darauf irgendeinen Einfluss hatten.
Dieses voreilige Urteil ist auf ein mangelhaftes Verständnis des Verhältnisses zwischen Genen und Kultur zurückzuführen. Was Gene vorschreiben oder vorzuschreiben helfen, ist nicht ein Merkmal im Gegensatz zu einem anderen, sondern die Häufigkeit von Merkmalen und das Muster, das sie bilden, sobald kulturelle Innovation sie verfügbar macht. Die Genexpression kann plastisch sein, das heißt, eine Gesellschaft kann aus einer Vielfalt von Möglichkeiten ein oder mehrere Merkmale auswählen. Oder aber sie ist nicht plastisch – dann können alle Gesellschaften nur ein Merkmal auswählen.
Nehmen wir ein geläufiges Beispiel variierender Plastizität an anatomischen Merkmalen. Die Gene, die die Entwicklung des Fingerabdrucks vorschreiben, exprimieren sich sehr plastisch, erlauben also sehr viele unterschiedliche Varianten. Keine zwei Personen auf der Welt haben vollständig identische Fingerabdrücke. Die Gene dagegen, die die Anzahl von Fingern an jeder Hand vorschreiben, sind relativ stabil. Es werden fünf Finger, immer fünf. Nur ein extremer Zwischenfall während der Entwicklung oder eine Genmutation kann zu einer anderen Anzahl führen.
Das Prinzip der variierenden Plastizität lässt sich auch auf Kulturmerkmale leicht anwenden. Dass wir uns überhaupt um Kleidung kümmern, vom Lendenschurz bis zum großen Gesellschaftsanzug, ist genetisch bedingt. Doch da die entsprechenden Gene extrem (und fast schon grenzenlos) plastisch sind und sie so vielen unterschiedlichen Emotionen Ausdruck geben, entscheiden sich die Individuen im Lauf ihres Lebens für mehrere oder gar für Hunderte verschiedene Optionen. Am anderen Extrem findet sich das Beispiel des Inzests, der in allen normalen Familienstrukturen instinktiv vermieden wird (aufgrund des Westermarck-Effekts, dem zufolge Personen, die in früher Kindheit in enger häuslicher Gemeinschaft aufgewachsen sind, psychologisch nicht in der Lage sind, sich als Erwachsene miteinander zu paaren).
Entwicklungsbiologen haben festgestellt, dass der Grad der Plastizität bei der Genexpression ebenso wie das Vorhandensein oder Fehlen der Gene überhaupt der Evolution durch natürliche Selektion unterliegt. Für den Erfolg des Einzelnen spielt es eine Rolle, ob er der Mode seiner Gruppe folgt und die richtigen Insignien trägt, die seinem Rang, seiner Beschäftigung und seinem Status entsprechen. In einfacheren Gesellschaften, wie sie während der menschlichen Evolution größtenteils existierten, spielte das sogar noch eine größere Rolle und konnte gar über Leben und Tod entscheiden. Und der Westermarck-Effekt spielte einst wie heute überall und unter allen Umständen eine Rolle, weil er der gesamten Menschheit eine automatische Abwehr gegen die fatalen Auswirkungen der Inzucht bot.
Alle Gesellschaften und jedes Individuum in ihnen spielt das Spiel der genetischen Fitness, dessen Regeln über unzählige Generationen durch die Gen-Kultur-Koevolution herausgebildet wurden. Gilt eine Regel unumstößlich, etwa die Schädigung durch Inzest, so können wir nur eine einzige Karte spielen; in diesem Fall heißt sie «Auszucht». Ist dagegen ein Teil der Umwelt unvorhersagbar, so ist man gut beraten, wenn man einer Mischstrategie folgt, die sich durch Plastizität erreichen lässt. Ist ein Merkmal oder eine Reaktion nicht angemessen, so kann man innerhalb des genetischen Repertoires auf eine andere Option umschalten. Der Grad der Plastizität innerhalb einer kulturellen Kategorie hängt nicht von einer expliziten Beurteilung der künftigen Ereignisse ab, sondern vom Ausmaß der Herausforderungen, denen die Merkmals- oder Verhaltenskategorie während der Gen-Kultur-Koevolution in den letzten Generationen ausgesetzt war.[ 43 ]
Seit den 1970er Jahren kennen Biologen die genetischen Prozesse, über die die Evolution der Plastizität wohl abläuft. Wahrscheinlich kommt es nicht zu Mutationen an Protein-codierenden Genen, die eine Basis einer Aminosäure und damit den Aufbau eines Proteins verändern würden. Wahrscheinlich
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