Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Zudem weiß man inzwischen, dass die erblich bedingte Homosexualität weltweit zu häufig auftritt, als dass sie allein auf Mutationen zurückzuführen sein kann. In der Populationsgenetik gibt es eine Faustregel für Frequenzen in dieser Größenordnung: Kann ein Merkmal nicht ausschließlich zufälligen Mutationen zugeschrieben werden, so muss es, obwohl es die Fortpflanzung seiner Träger einschränkt oder ganz verhindert, von der natürlichen Selektion gefördert werden, die also an einem anderen Ziel angreift. So wäre etwa denkbar, dass ein geringer Anteil von Genen, die zur Homosexualität veranlagen, einem praktizierenden Heterosexuellen im Selektionskampf Vorteile verleiht. Oder aber Homosexualität bringt der Gruppe einen Vorteil, weil sie besondere Talente, ungewöhnliche Persönlichkeitsmerkmale, gesonderte Rollen und spezielle Berufe hervorbringt. Es gibt umfassende Hinweise darauf, dass das sowohl in schriftlosen wie in modernen Gesellschaften der Fall ist. Jedenfalls sind Gesellschaften schlecht beraten, Homosexualität deshalb abzulehnen, weil Schwule und Lesben andere sexuelle Vorlieben haben und weniger Kinder bekommen. Stattdessen sollten wir sie wertschätzen für das, was sie konstruktiv zur menschlichen Vielfalt beitragen. Eine Gesellschaft, die Homosexualität verurteilt, schadet sich selbst.
Ein Prinzip lässt sich aus den biologischen Ursprüngen des moralischen Denkens ableiten: Abgesehen von den klarsten ethisch-moralischen Vorschriften, etwa der Ablehnung von Sklaverei, Kindesmissbrauch und Genozid, gegen die nach allgemeinem Einverständnis überall ausnahmslos vorgegangen werden muss, gibt es eine breite Grauzone, die an sich schwer zu überblicken ist. Daraus ethische Vorschriften und Urteile abzuleiten, setzt vollständige Einsicht in die Gründe voraus, zu diesem Thema so oder so zu denken, und dazu gehört auch die Biologie der damit verbundenen Emotionen. Diese Hinterfragung hat noch nicht stattgefunden. Eigentlich ist noch selten jemand überhaupt auf diesen Gedanken gekommen.
Wenn wir uns erst besser selbst verstehen, wie werden wir dann über Moral und Ehre denken? Ich bin mir ganz sicher, dass in vielen Fällen, vielleicht sogar in deren großer Mehrzahl, die Vorschriften, die heute die meisten Gesellschaften teilen, den biologischen Realismustest bestehen werden. Andere, etwa das Verbot der künstlichen Befruchtung, die Verurteilung homosexueller Vorlieben und die Zwangsverheiratung junger Mädchen, werden durchfallen. Egal, wie das Ergebnis ausfallen wird, klar scheint jedenfalls, dass es der philosophischen Ethik guttun wird, wenn ihre Vorschriften auf Basis sowohl der Naturwissenschaften als auch der Kultur neu begründet werden. Wenn dieses tiefere Verständnis zu dem «moralischen Relativismus» führt, den die dogmatisch Rechtschaffenen so leidenschaftlich schmähen, dann soll es mir recht sein.
25.
DER URSPRUNG DER RELIGION
Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert spitzt sich der Harmagedon im Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion deutlich zu (wenn mir diese starke Metapher nachgesehen wird). Es geht darum, dass die Naturwissenschaft die Religion von Grund auf zu erklären versucht – nicht als unabhängige Realität, in der die Menschheit ihren Platz sucht, nicht als Gehorsam gegenüber einer göttlichen Macht, sondern als Produkt der Evolution durch natürliche Selektion. Im Grunde geht es in dem Kampf nicht um Menschen, sondern um Weltanschauungen. Menschen sind nicht verfügbar, Weltanschauungen schon.
Wurde der Mensch erschaffen nach dem Bild Gottes, oder wurde Gott nach dem Bild des Menschen erschaffen? Das ist der Kern des Dissenses zwischen Religion und wissenschaftlich begründetem Atheismus. Für welche Option man sich entscheidet, wirkt sich tiefgreifend auf das Selbstverständnis des Menschen und auf den Umgang mit den Mitmenschen aus. Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, wie es die Schöpfungsmythen und Darstellungen der meisten Religionen suggerieren, so lässt sich vernünftigerweise davon ausgehen, dass ihm persönlich an den Menschen gelegen ist. Hat aber Gott die Menschheit nicht nach seinem Bild geschaffen, dann kann es sehr gut sein, dass das Sonnensystem in den ungefähr 10 36 Sternensystemen des Universums keine große Besonderheit ist. Wäre diese Annahme weithin verbreitet, so würde die Zugehörigkeit zu den organisierten Religionen rapide abnehmen.
Kommen wir also zur ultimaten Frage, die die Theologen meines
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