Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
bereitwillig unser eigenes Leben riskieren, um Fremde zu retten. So mancher Helfer in einem Notfall hinterlässt nicht einmal seinen Namen. Und wenn doch, so tun sie ihr Heldentum als ganz grundlos ab: «Das war doch das Mindeste» oder «Ich habe doch nur getan, was ich mir von anderen auch erwarten würde.»[ 53 ]
Authentischer Altruismus ist eine Realität, erklären Samuel Bowles und andere Forscher. Er stärkt Macht und Wettbewerbsfähigkeit von Gruppen, und im Lauf der menschlichen Evolution wurde er auf Gruppenebene durch natürliche Selektion gefördert.[ 54 ]
Weitere Studien lassen vermuten (wenngleich der Beweis noch aussteht), dass selbst Gleichmacherei für die fortgeschrittensten modernen Gesellschaften von Vorteil ist. Wo die Bürger die beste Lebensqualität genießen – von Bildung und medizinischer Versorgung über Verbrechensbekämpfung bis zum kollektiven Selbstbewusstsein –, besteht auch der geringste Einkommensunterschied zwischen den reichsten und ärmsten Bürgern. 2009 analysierten Richard Wilkinson und Kate Pickett 23 der reichsten Länder der Welt und US-Bundesstaaten und stellten fest, dass Japan, die skandinavischen Länder und der US-Staat New Hampshire sowohl die geringsten Vermögensunterschiede aufwiesen als auch den durchschnittlich höchsten Lebensstandard. Ganz unten in der Liste rangierten Großbritannien, Portugal und der Rest der USA.[ 55 ]
Es verschafft uns eine tiefe Befriedigung, wenn wir nicht einfach nur gleichmachen und kooperieren. Außerdem gefällt es uns, wenn diejenigen bestraft werden, die nicht kooperieren (Schmarotzer, Kriminelle) oder auch nur keinen statusgemäßen Beitrag zur Gemeinschaft leisten (reiche Müßiggänger). Der Impuls, das Böse zu Fall zu bringen, wird in der Regenbogenpresse und im Krimi voll bedient. Es zeigt sich, dass wir nicht nur Übeltäter und Faulenzer unbedingt bestraft haben wollen; wir tragen zur Erteilung der gerechten Strafe auch gerne selbst bei – sogar auf eigene Kosten. Einen Autofahrer ausschimpfen, der bei Rot über die Ampel fährt, den Chef auspfeifen, eine Straftat anzeigen – das machen viele, selbst wenn sie die Schuldigen gar nicht persönlich kennen und wenn ihnen für ihren guten Bürgersinn Kosten drohen, und sei es nur der Zeitverlust.[ 56 ]
Im Gehirn aktiviert die Erteilung solcher «altruistischer Strafen» beidseitig die vordere Insula, eine Gehirnregion, die auch auf Schmerz, Wut und Ekel reagiert. Der Gesellschaft nützen sie, weil sie für Ordnung sorgen und dafür, dass die Ressourcen der Öffentlichkeit weniger egoistisch genutzt werden. Das liegt nicht daran, dass der Altruist ständig Bilanzen durchrechnet. Er hat höchstens eine vage Vorstellung von den ultimaten Auswirkungen auf ihn selbst und seine Verwandtschaft. Echter Altruismus beruht auf einem biologischen Instinkt für das Allgemeinwohl des Stammes, der über Gruppenselektion entwickelt wurde, weil Gruppen aus Altruisten in vorgeschichtlicher Zeit Gruppen von Individuen in egoistischer Unordnung überlegen waren. Unsere Art ist kein Homo oeconomicus . Unterm Strich zeigt sich, dass sie komplizierter ist und interessanter. Wir sind der Homo sapiens , unvollkommene Wesen, die sich aufgrund gegensätzlicher Impulse durch eine unvorhersagbare, unerbittlich bedrohliche Welt kämpfen und das Beste machen aus dem, was sie haben.
Und jenseits der gewöhnlichen altruistischen Instinkte ist sogar noch etwas anzutreffen: zerbrechlich und flüchtig, aber für jeden, der die betreffende Erfahrung gemacht hat, außerordentlich prägend. Ich meine Ehre , ein Gefühl, das aus angeborener Empathie und Kooperationsbereitschaft entstanden ist. Hier ruht die letzte Altruismus-Reserve, die uns vielleicht noch retten kann.
Ehre ist natürlich eine zweiseitige Medaille. Auf der einen Seite stehen Hingabe und Opferbereitschaft im Krieg. Diese Reaktionen beruhen auf dem Urinstinkt der Gruppe, sich dem Feind zu stellen und gegen ihn zu verteidigen, wenn er als Bedrohung für die Gruppe empfunden wird. Perfekt erfasst hat die entsprechende Stimmung 1914 der junge englische Dichter Rupert Brooke, bevor der Erste Weltkrieg seinen unsäglichen Schrecken zeigte, in dem er selbst zu Tode kam.
Blast, Trompeten, blast! Sie brachten uns Darbenden
das so lang entbehrte Heilige und Liebe und Schmerz.
Als Königin ist die Ehre zurückgekehrt auf die Erde
und beschenkt ihre Untertanen mit königlichem Lohn.
Und Edelmut wandelt wieder unter uns; wir
haben unser Erbe
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