Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Blut trinkt – was durch den Akt der Transsubstantiation beides wörtlich zu nehmen ist. Wenn Außenstehende solche Dogmen offen in Frage stellen, gilt das als Einmischung in die Privatsphäre und als persönliche Beleidigung. Und wer sich als Anhänger einen Zweifel erlaubt, macht sich der Häresie schuldig.
Ein derart starker Stammesinstinkt konnte in der realen Welt nur durch die Evolution über Gruppenselektion aufkommen, also im Kampf von Stamm gegen Stamm. Die charakteristischen Eigenschaften der Religiosität sind die logische Folge aus dem Wirken der dynamischen Kräfte auf dieser höheren Ebene biologischer Organisation.
Das Herzstück der traditionellen organisierten Religionen sind ihre Schöpfungsmythen. Wo in der Geschichte der wirklichen Welt haben sie ihren Ursprung? Die einen stammen teilweise aus volkstümlichen Erinnerungen an prägende Ereignisse – etwa ein Auszug in neue Siedlungsgebiete, gewonnene oder verlorene Kriege, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche. Über Generationen hinweg wurden sie ausgestaltet und ritualisiert. Der vermeintliche Auftritt göttlicher Wesen auf der Bühne verdankt sich den persönlichen Gedankenprozessen der Propheten und Gläubigen. Sie gehen davon aus, dass die Götter genauso fühlen, denken und planen wie sie selbst. Im Alten Testament etwa ist Jahwe verschiedentlich von Liebe, Eifersucht, Zorn und Rache getrieben – genauso wie seine sterblichen Kinder.
Der Mensch projiziert seine Menschlichkeit auch auf Tiere, Maschinen, Orte und selbst fiktive Wesen. Wo solche Übertragungen üblich waren, war es ein relativ einfacher Schritt von menschlichen Herrschern hin zu unsichtbaren göttlichen Wesen. Gott ist zum Beispiel in allen drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) ein Patriarch ganz wie die Herrscher über die Wüstenstämme, bei denen diese Religionen aufkamen.[ 63 ]
Selbst noch die phantastischsten Elemente der Schöpfungsmythen – das Auftreten von Dämonen und Engeln, unsichtbaren Stimmen, die Auferstehung der Toten und das Innehalten der Sonne auf ihrer Bahn – sind leicht erklärbar: nicht nach physikalischen Gesetzen, sondern im Licht der modernen Physiologie und Medizin. Die Clanführer und Schamanen sprechen immer gern mit Göttern und Geistern, wenn sie träumen, unter dem Einfluss von Drogen halluzinieren oder bei Schüben von Geisteskrankheit. Besonders lebhaft sind Episoden des unwillkürlichen Erlebens in der Schlafparalyse, bei der ansonsten gesunde Menschen eine Nebenwelt voller bedrohlicher Ungeheuer und zerrüttender Angst betreten. Ein Patient des Psychologen J. Allan Cheyne beschreibt etwa «den Schatten einer sich bewegenden Gestalt mit vorgereckten Armen, der mit absoluter Sicherheit übernatürlich und böse war». Ein anderer Patient war sich genauso sicher, dass er beim Aufwachen ganz real «ein halb Schlangen-, halb Menschenwesen» vorfand, das ihm «unverständliche Laute ins Ohr schrie». Die überzeugenden Erlebnisse in der Schlafparalyse ähneln in ihrer Bildlichkeit stark den Eindrücken von Entführungen durch Außerirdische, die zumindest in einigen Fällen mit einer Hyperaktivität im Parietallappen des Gehirns assoziiert werden. Weiterhin berichten Patienten, während der Schlafparalyse das Gefühl gehabt zu haben, sie würden fliegen oder fallen oder ihren Körper verlassen. Die primäre Emotion dabei ist Angst, doch wandelt sie sich manchmal zu Aufregung, Erheiterung oder Verzückung.[ 64 ]
Eine noch größere Rolle dürften bei der Entstehung von Schöpfungsmythen halluzinogene Drogen spielen, unter deren Einfluss Illusionen zu längeren Geschichten werden, die von Symbolik durchzogen und nach der Wahrnehmung des Träumers mit mystischer Bedeutung aufgeladen sind. Schamanen und ihre Anhänger in primitiven Gesellschaften nutzen Drogen, um mit der Geisterwelt in Kontakt zu treten. Eine solche Substanz ist das besonders gut untersuchte Ayahuasca, ein Halluzinogen, das bei Eingeborenenstämmen im Amazonasbecken weit verbreitet ist. Unter dem Einfluss von Ayahuasca erfährt man lebhaft-realistische Visionen, die zunächst bunt durcheinandergewürfelt sind, aber dann in eine Art Geschichte münden. Verschiedentlich sieht man seltsame geometrische Muster, Jaguare, Schlangen und andere Tiere, außerdem den eigenen Tod und die Reise in eine andere Welt. Folgendes Beispiel stammt von einem Siona-Indio aus Kolumbien nach der Einnahme von Yagé (so die lokale Bezeichnung für Ayahuasca):
Aber dann
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