Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
angetreten.
Die andere Seite der Medaille zeigt die Ehre des Einzelnen, der der Menge gegenübersteht und manchmal auch einer vorherrschenden Moral oder gar einer Religion. Elegant bringt das Kwame Anthony Appiah in seinem Buch Eine Frage der Ehre zum Ausdruck, in dem er den Widerstand Einzelner sowie von Minderheiten gegen organisierte Ungerechtigkeit beschreibt:
Vielleicht fragen Sie angesichts dieser Geschichten, ob denn die Ehre hier etwas bewirkt, was nicht schon die Moral fordert. Schon moralisches Empfinden wird Soldaten davon abhalten, die Menschenwürde von Gefangenen zu verletzen. Und es wird sie veranlassen, das Tun derer zu missbilligen, die Gefangene misshandeln. Aufgrund moralischen Empfindens können auch Frauen, die auf schlimmste Weise missbraucht worden sind, wissen, dass ihre Vergewaltiger eine Strafe verdienen. Aber es bedarf eines Gefühls für Ehre, um als Soldat nicht nur richtig zu handeln und falsches Tun zu verurteilen, sondern auch etwas zu unternehmen, wenn andere auf der eigenen Seite niederträchtige Dinge tun. Es bedarf eines Gefühls für Ehre, um sich durch das Tun anderer mitbetroffen zu fühlen.
Und es bedarf eines Gefühls für die eigene Würde, um gegen alle Widerstände auf dem eigenen Recht auf Gerechtigkeit zu beharren in einer Gesellschaft, die den Frauen solche Gerechtigkeit nur selten gewährt. Und eines Gefühls für die Würde aller Frauen, um auf die eigene brutale Vergewaltigung nicht nur mit Empörung und dem Wunsch nach Rache zu reagieren, sondern auch mit dem festen Entschluss, das eigene Land zu verändern, damit die Frauen dort mit dem Respekt behandelt werden, der ihnen zusteht. Wer solche Entscheidungen trifft, entscheidet sich für ein Leben voller Schwierigkeiten und oft sogar voller Gefahren. Aber auch und keineswegs zufällig für ein ehrenvolles Leben. [ 57 ]
Das naturalistische Verständnis der Moral führt nicht zu absoluten Vorschriften und Gewissheiten, sondern warnt davor, diese blind auf Religion und ideologischem Dogma fußen zu lassen. Sind solche Vorschriften verfehlt, was nicht gerade selten ist, dann liegt das normalerweise an der Unkenntnis derer, die sie erlassen: Irgendein wichtiger Faktor wurde bei der Ausformulierung versehentlich übersehen. Nehmen wir zum Beispiel das päpstliche Verbot gegen künstliche Empfängnisverhütung. Den Entschluss traf – sicher mit den besten Absichten – eine einzelne Person, Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Humanae Vitae . Seine Begründung klingt zunächst völlig vernünftig. Gott, so sagt er, möchte, dass der Geschlechtsverkehr allein dem Ziel dient, Kinder zu zeugen. Die Logik in Humanae Vitae ist aber falsch: Sie lässt einen entscheidenden Punkt aus. Unzählige Beweise aus Psychologie und Fortpflanzungsbiologie, viele davon seit den 1960er Jahren bekannt, zeigen, dass Geschlechtsverkehr noch einen weiteren Zweck erfüllt. Beim Menschen sind die äußeren Geschlechtsmerkmale der Frau verborgen, die Brunstzeit ist damit unsichtbar – anders als bei den Weibchen anderer Primatenarten. Sowohl Männer als auch Frauen fördern, sobald sie aneinander gebunden sind, beständigen, häufigen Geschlechtsverkehr. Es handelt sich dabei um eine genetische Adaption: Sie stellt sicher, dass die Frau und ihr Kind vom Vater unterstützt werden. Für die Frau ist die Verbindlichkeit, die durch lustvollen nichtreproduktiven Verkehr gesichert wird, bedeutsam und in vielen Umständen sogar überlebenswichtig. Damit ein Kleinkind sein komplexes Gehirn und seine hohe Intelligenz ausbilden kann, durchläuft es während der Entwicklung eine ungewöhnlich lange Zeit der Hilflosigkeit. Die Mutter kann von der Gemeinschaft, selbst in den eng verwobenen Gruppen der Jäger und Sammler, keine gleichwertige Unterstützung erwarten wie die, die sie von einem sexuell und emotional gebundenen Geschlechtspartner erhält.
Ein zweites Beispiel dafür, wie dogmatische Ethik aus mangelndem Wissen in die Irre führt, ist die Homophobie. Im Grunde ist der Gedankengang derselbe wie bei der Ablehnung der Pille: Sex, der nicht der Fortpflanzung dient, muss abartig, muss Sünde sein. Unzählige Belege aber erweisen das Gegenteil. Feste Homosexualität, die sich bereits in der Kindheit bemerkbar macht, ist erblich. Das Merkmal ist zwar nicht immer fixiert, aber zum Teil wird die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Person zum Homosexuellen entwickelt, von anderen Genen vorgeschrieben als denen, die zur Heterosexualität führen.
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