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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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schon angeheitert, einer von ihnen ließ eine leere Whiskyflasche aus dem Fenster fallen.
    »Scheißfröhliches Neues Jahrhundert«, riefen sie.
    Henry, der niemandem in die Augen schauen wollte, sank noch tiefer in den Sitz.
    Die Menschenmenge wurde immer dichter, je näher sie der London Wall kamen, und schließlich verlor der Taxifahrer die Lust an diesem Abenteuer. Erst als das Taxi schon weiterfuhr, fiel Henry der Regenschirm auf dem Rücksitz ein. Für Mitternacht war Regen angesagt worden. Er schloss sich der Menge an, die auf den Flusszustrebte. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich noch um einen Schweigemarsch, die Menschen waren noch zu ernst, um zu reden, und zu eifrig damit beschäftigt, klare Sicht auf das Feuerwerk und die viel gepriesene, aber unvorstellbare Flammenwand zu ergattern.
    Der Wohnblock, in dem seine Freunde lebten, war von der Polizei abgeriegelt worden. Er lag in einer Gasse, die zu einem kurzen Fußgängerweg direkt am Fluss führte. Henry erklärte einem Beamten, er habe eine Einladung in eine der Wohnungen. »Sie Glückspilz«, sagte der Polizist und kehrte ihm den Rücken zu. Henry steckte in der Menge fest und konnte nur darauf warten, dass ein anderer Polizist vorbeikam, dem er seine Bitte vortragen konnte. Zum Rufen war es viel zu laut. Rechts von ihm sah er ein paar junge Leute, die über die Absperrung kletterten und zum Fluss hinuntergingen. Die Polizei, die sich um ihre dicken Motorräder geschart hatte, schien das nicht zu bemerken. »Was ist mit denen?«, rief Henry und wies auf die grinsenden Teenager, die nun sicher waren, beste Plätze zu ergattern. Eine Frau in einem weißen Plastikregenmantel zupfte an seinem Ärmel. »Keine Sorge, mein Lieber, die werden uns alle um zwanzig vor zwölf durchlassen.«

    »Tut mir leid, dass ich so spät komme, aber die Absperrungen sind gerade erst geräumt worden.«
    »Kein Problem – du bist da, das ist die Hauptsache, und gerade noch rechtzeitig zum großen Knall.«
    Henry legte seinen Mantel ab, überreichte seine zweiFlaschen Champagner und erhielt im Gegenzug ein volles Glas.
    »Komm herein und misch dich unter die Leute. Viele davon wirst du kennen.«
    William war einer von Henrys Protegés gewesen, der Klügste von allen, Henrys erste Wahl als Nachfolger. Stattdessen hatte William beschlossen, seine eigene Firma zu gründen. Henry, der ihn nicht hatte davon abbringen können, hatte ihm finanzielle Unterstützung angeboten. William hatte die Unabhängigkeit gewollt und ihm nur fünf Prozent an der neuen Firma zugestanden. Das war genug; Henry war zwar fünfundzwanzig Jahre älter als William, aber die beiden mochten sich, und die Konkurrenz belebte ihre Freundschaft nur – die bereits bestehenden Bindungen hielten das aus.
    In den großen, miteinander verbundenen Räumen hielten sich etwa fünfzehn Erwachsene und vielleicht noch einmal so viele Kinder auf, doch die waren nur schwer zu zählen; immerzu rannten sie vom Zimmer auf den Balkon und wieder zurück. Ein paar Leute aus der Firma waren dabei, und Henry umarmte sie herzlich. Er sah Grace draußen auf dem Balkon stehen und ging hinaus, um ihr die Hand zu geben.
    »Ach, da bist du ja«, sagte sie, »ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich weiß ja, wie sehr du die Menschheit
en masse
hasst – und schau nur mal, mehr
en masse
ist ja kaum denkbar.«
    Sie führte ihn an den Rand des Balkons. Von dort oben hinabzuschauen war, als hätte man das Dach von einer U-Bahn in der Rushhour gehoben – die Menschen standen so dicht gedrängt, dass der Regen nicht zu Boden fallen konnte, wenn es später regnen sollte.
    »Hast du die Jungs gesehen?«
    »Ja, im Vorbeigehen.«
    Henry war bei Graces und Williams Hochzeit gewesen. Nessa und er waren die Taufpaten ihres ältesten Sohnes, und er wusste, dass Nessa zweifellos weiterhin eine Rolle im Leben des Jungen spielte.
    »Schnell, alle auf den Balkon. Noch zwei Minuten bis Mitternacht. Bringt eure Gläser mit.«
    Kurzes Warten, fast Stille, und dann war der Himmel voller Raketen; die grauen Barkassen spuckten ihre Fracht mit synchroner Wut aus. Henry erinnerte das an die Nachrichtenbilder aus dem Golfkrieg. Die Schläge waren scharf und hoch, etwas mehr Bass wäre ihm lieber gewesen, aber das schien niemanden sonst zu stören. Henry sah, dass die Erwachsenen wie Kinder Augen und Münder weit aufgerissen hatten, aber die Kinder selbst waren schon wieder abgelenkt und schauten über die Brüstung auf die Menschen hinab. Das Feuerwerk dauerte

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