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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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am Geländer fest und schaffte es so über die Brücke. Südlich des Flusses wurde es leichter. Es war nicht mehr so brechend voll, und Henry kam am Albert Embankment gut voran. Entgegenkommende Passanten wichen ihm aus. Als er später sein Spiegelbild in einem Schaufenster sah, wusste er, warum. Sein Haar, dick von Regen und Schlamm, umstand ein zerschundenes und blutiges Gesicht wie ein wilder Strahlenkranz. Seine Kleidung wirkte abgerissen. Er sah aus wie ein übellauniger Penner.
    Henry hatte an der Lambeth Bridge nach Norden abbiegenwollen, doch die Polizei hatte erneut eine Absperrung errichtet. Es schien fast so, als wäre er Mitstreiter in einem monströsen Hindernislauf. Er sah über die Barrieren hinweg auf die leere Straße, die sich über die Brücke erstreckte, der erste offene Raum, den er seit Stunden gesehen hatte.
    »Sie müssen nach Vauxhall, das ist der einzige Weg über den Fluss.« Ein Mann mit einem schlafenden Kind in den Armen zuckte bei dem teilnahmslosen Ton des Polizisten mit den Schultern. Henry wollte schon fragen, warum die Brücke geschlossen sei – welche höhere Logik hatte es für notwendig erachtet, aus Feiernden Flüchtlinge zu machen und ihnen die ersten paar Stunden des neuen Jahrtausends zu vermiesen? Vorsichtig wandte er sich ab. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Polizisten Kopfstöße verteilten, aber riskieren wollte er es auch nicht.
    Auf der Vauxhall Bridge sah er den ersten Straßenverkehr. Er humpelte, und der Kopf tat ihm weh. Noch immer waren Hunderte von Menschen unterwegs, und er ging im Rinnstein, weil er zu müde war, sich mit den winzigen Richtungsänderungen herumzuplagen, die auf dem Bürgersteig nötig waren. Als der Rinnstein schließlich von Müll verstopft war, trat er einfach auf die Straße und kümmerte sich nicht um das Hupen der Autos und die Flüche der Fahrer. Henry lief mit gesenktem Kopf durch Victoria zum Eaton Square. Es war halb vier Uhr in der Frühe, doch seine Qualen hatten noch immer kein Ende. Auf der Fulham Road liefen ihm ein Junge und ein Mädchen über den Weg. Sie sahen nicht älter aus alsfünfzehn, wirkten kalt und verhärmt in ihren T-Shirts und drückten Bierdosen an ihre schmale Brust. »Frohes Neues Jahr!«, riefen sie. Henry ging weiter, sagte nichts, er war jetzt fast zu Hause. Sie folgten ihm: »Na, fick dich doch, du Wichser. Fick dich!« Als er an seinem Tor ankam, traf eine Bierdose seinen Rücken.

4.
    Es ist schwer, in Florida einen Bauträger zu finden, der sich in Zurückhaltung übt. Von Stadtplanern subventioniert, werden in atemberaubendem Tempo Shoppingmalls hochgezogen, ohne dass man sich darum kümmert, dass viele der Geschäfte noch nicht mal die Planungskosten der Stadt decken würden. Das Plaza del Rey jedoch war ein Erfolg gewesen; zwanzig Jahre lang hatte es Gewinn abgeworfen, und erst in jüngster Zeit hatte es Anzeichen für eine Rezession gegeben.
    Die Drogerie und der Italiener hatten geschlossen, nur Jack’s Café, mit seinen weißen Plastiktischen im Schatten zweier großer Ficus-Bäume, versprach noch Geselligkeit. Manchmal war es auch in Ritas Schönheitssalon voll – und die Reinigung hatte einen festen Kundenstamm und lockte Fahrer vom Ocean Boulevard an, doch das genügte nicht, um das Gefühl zu zerstreuen, dass das Plaza del Rey eine Verjüngungskur dringend nötig hatte.
    Nessa hatte die Pläne des Bauträgers erfrischend gefunden.Die Ficus-Bäume waren herausgerissen und durch Dattelpalmen ersetzt worden, was eher zu dem spanischen Kolonialstil passte, den sich die Architekten nun vorstellten. Die flachen grauen Dachziegel waren durch grobe Terracottaziegel ersetzt worden. Die glatten Wände waren mit falschen Bögen verziert, davor hatte man tiefe Architrave angebracht.
    Jeden Morgen beim Frühstück beobachtete Nessa die Umbauarbeiten von einem von Jacks Tischen aus. Sie wurden nun von grünen Schirmen beschattet, die er hatte anschaffen müssen. Die Arbeit war überraschend einfach; was wie Stuck auf Ziegel oder Beton aussah, war in Wahrheit Farbe auf Styropor. Blöcke davon, sechzig Zentimeter breit, zwei Meter lang, wurden geschnitten und geformt und dann an die Wand geklebt. Zwei Schichten Wandfarbe auf Acrylbasis, eine in Grau, die zweite sandfarben, vervollständigten die Illusion. Die Plaza mochte zwar nun so echt aussehen wie eine Filmkulisse in Hollywood, aber es zogen neue Pächter ein, und Phil, der Drogeriebesitzer, kehrte zurück.
    Jack begrüßte diese Wiederbelebung,

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