Die spaete Ernte des Henry Cage
sich nie länger als ein paar Minuten auf eine Sache konzentrieren. Kam Mrs Abraham ins Haus, machte er einen Spaziergang – doch der verstärkte nur sein Gefühl, fehl am Platze zu sein.
»Hallo, wie geht’s denn so?«
Henry drehte sich um und sah jemanden mit einem Handy direkt hinter sich. London war voller Menschen, die keinen Augenblick ihrer Zeit verschwenden wollten,und die meisten von ihnen hatten etwas zu sagen, wie es schien. Überall warteten junge Menschen mit großen Herzen und Klemmbrettern und sprachen ihn an, im Auftrag der Krebsforschung, der Alzheimerprävention oder zugunsten hungernder Kinder. An den geschäftigen Straßen standen sie im Abstand von zwanzig Metern; Henry fand diesen Spießrutenlauf des guten Willens unerträglich. Er unterschrieb, fühlte sich aber alles andere als großzügig. Ein Überfall blieb ein Überfall, selbst für einen guten Zweck. Und wenn es keine Wohltätigkeit war, dann ging es um Timesharing eines Urlaubsdomizils, um
The Big Issue
, eine Petition oder eine gefälschte Gucci-Tasche. Henry lebte in einer Stadt der ausgestreckten Arme.
Eines Morgens bog er um eine Ecke in der Grosvenor Crescent und fand sich plötzlich neben einem Motorrad wieder, das brennend am Straßenrand stand – säuberlich geparkt, aber in Flammen, wie ein tibetanischer Selbstmörder. Henry sah sich um. Das brennende Motorrad stand vor der Zentrale des Britischen Roten Kreuzes, doch niemand war zu Hilfe geeilt. Er ging hinein und traf auf einen Sicherheitsmann, der schließlich mit einem Feuerlöscher anrückte. Es war gerade noch genug von dem Motorrad übrig, um es als eine Honda identifizieren zu können.
»Was, glauben Sie, ist passiert?«, fragte Henry.
»Wir sind doch in London, oder? Das reinste Narrenhaus.«
An den Nachmittagen blieb Henry gern daheim. Im Laufe der Jahre hatte er, neben seinen Fotografien, eineSammlung zeitgenössischer britischer Kunst zusammengetragen, besaß aber kein einziges erstklassiges Gemälde. Er hatte die Werke von Meninsky, Priss, Shephard, Daintry und anderen erworben – Künstler, die Talent hatten, aber nicht sonderlich originell waren; Maler, die unterrichten mussten, um die Miete aufbringen zu können.
Ihre Arbeiten rührten Henry. Er bewunderte ihre Zähigkeit und begnügte sich mit ihrem Rang. Immer wieder betrachtete er seine Wände mit Vergnügen. Anderen gegenüber erklärte Henry häufig, er sei von Gemälden umgeben, die so wirkten wie die Arbeiten talentierter Verwandter. Er hätte nur ungern Kunst um sich gehabt, die zu offensichtlich teuer war. Ein Lucian Freud oder Francis Bacon wäre unmöglich gewesen – da konnte man gleich seine Kontoauszüge an die Wand hängen. Daher fuhr Henry auch einen Mercedes und keinen Bentley, wohnte er in Chelsea und nicht in Belgravia.
Es gab durchaus einige, die Henrys Understatement für unehrlich hielten, doch seine alten Freunde waren nicht so zynisch. Walter, sein Anwalt, und Oliver, ein alter Studienfreund aus Cambridge, wussten, dass Henrys Ablehnung alles Pompösen schon sehr weit zurückreichte. Seit dreißig Jahren trafen sie sich alle paar Wochen in einem kleinen griechischen Restaurant in Marylebone, um über Bücher, das Leben und – während der Saison – Kricket zu reden. Sie hatten Henry arm erlebt, und sie hatten ihn reich erlebt, aber sie hatten niemals erlebt, dass Henry etwas unverhohlen zur Schau stellte.
Nach ihrem letzten Treffen hatte Walter ihn angerufen, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.
»Du hast ein wenig deprimiert gewirkt«, sagte er.
Henry redete sich ein, er sei wohl eher wehmütig als traurig. Er hörte sich Jazz an, der zu einem regnerischen Nachmittag gepasst hätte, und langsame Sätze von Symphonien. Diese leeren Tage fühlten sich an wie das Ende einer Liebe.
In stummer Verzweiflung nahm Henry alte Gewohnheiten wieder auf. Auch während der Ehe hatte Henrystets außer Haus gefrühstückt und auf dem Weg zur Arbeit in einer Brasserie einen Zwischenstopp eingelegt. Er hatte zwar kein Büro mehr, in das er fuhr, aber er beschloss, an dieser morgendlichen Routine nichts zu ändern. Stets hatte ihn ein Buch zum Frühstück begleitet, und meist las er tatsächlich – er nutzte das Buch allerdings auch zur Tarnung und blätterte die ungelesenen Seiten in passenden Abständen um, während er den Gesprächen an den Nachbartischen lauschte (seit einiger Zeit war ihm bewusst, dass ein Mann mittleren Alters, der allein mit einem Buch dasaß, praktisch
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