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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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nur Boten. Das Wissen um ihre Aufgabe beschränkte sich darauf, dass sie einen Mann zur Zentrale des Ministeriums an der East Chang’an Avenue zu bringen hatten. Allerdings nicht zum Hauptportal. Nein, zum stillen Eingang auf der Rückseite, wo nur die Wachposten etwas beobachten konnten. Erst da stieg echte Sorge in Xin Zhu auf. Die jungen Männer begleiteten ihn zu einer kleinen Tür, klopften und warteten, bis sie von innen von zwei uniformierten Soldaten des Ministeriums geöffnet wurde. Dann überließen sie Xin Zhu seinem Schicksal, ohne auch nur ein Übergabeformular zu unterzeichnen. Das war vielleicht das erschreckendste Detail. Wenn sich ein chinesischer Soldat über offizielle Vorschriften hinwegsetzte, war das ein denkbar schlechtes Zeichen.
    Nachdem man ihm sein Handy abgenommen hatte, blickte er in die Gesichter der Soldaten, von denen ihm eines bekannt vorkam. Ein hünenhafter Kerl mit einem Gesicht wie aus Lehm. »Kenne ich Sie?« Ohne auf seine Frage zu antworten, lenkte ihn der Soldat durch einen Korridor mit leeren Büros zu einer Treppe, die tief in den Untergrund führte. Bei einem Metalldetektor neben einem verglasten Schalter machten sie kurz halt. Ein Wachposten blickte flüchtig von irgendwelchen Papieren auf und forderte sie mit einem Wink zum Weitergehen auf. Sie passierten eine Stahltür und gelangten schließlich hinunter in den alten Steinkeller des Ministeriumsgebäudes, wo die Zellen lagen.
    Nachdem man ihn eingeschlossen hatte, ließ er sich auf dem Boden nieder und dachte kurz an das Jahr 1969, da er als achtzehnjähriger Bursche, der an das Leben im Qin-Ling-Gebirge gewöhnt war, zum ersten Mal eine Gefängniszelle betreten hatte, bedrängt von Gleichaltrigen, die darauf aus waren, ihn für seine Mittelschulbildung büßen zu lassen. Sie waren schon früh gekommen, Dorfjugendliche, die er kannte, um ihn mit Rotgardistensprüchen auf den Lippen aus dem Bett zu zerren. Zuerst hatte er sich die Zelle nur mit zwei anderen geteilt, doch am Nachmittag waren es schon zwanzig. Tuan Gang, der asthmatische Lehrer, dessen Ausbildung Xin Zhu diese Scherereien eingetragen hatte, überlebte die Nacht nicht, was für den Alten vielleicht sogar ein Segen war, denn die gnadenlos harte Bauern arbeit der nächsten fünf Jahre in der Inneren Mongolei hätte er bestimmt nicht überstanden. Und im Gegensatz zu Zhu wäre er auch nicht in der Lage gewesen, Neues zu lernen. Wie zum Beispiel das angemessene Auftreten in der Öffentlichkeit, während man sich heimlich eine ausgefeilte Architektur der Täuschung erschuf, die es einem ermöglichte, die eigene Individualität zu wahren und zugleich nach außen die Rolle eines Menschen zu spielen, der voll und ganz im Kollektiv aufging. Sicher hätte sein Lehrer nicht nach fünf Jahren Besuch von den Anwerbern des Guoanbu mit der Verheißung eines neuen Lebens erhalten. Nein, Tuan Gang wäre in diesen öden Feldern spätestens nach drei Monaten zusammengebrochen und hätte so oder so nicht erlebt, was aus seinem Lieblingsschüler wurde.
    Man hatte ihm seine Uhr gelassen, und so konnte er erkennen, dass vier Stunden verstrichen waren, als sich die Tür endlich öffnete. Es war kurz vor halb fünf. Er war nicht in Panik geraten, denn er wusste, was ihn erwartete. Gleich würde Yang Qing-Nian hereinmarschieren und ihm Drohungen an den Kopf werfen. Worin konnten diese Drohungen bestehen? Yang Qing-Nian war jung und dreist, aber er war kein Idiot. Wenn er es wagte, Xin Zhu zu Hause abzuholen, musste er etwas Entscheidendes in der Hand haben. Doch worum es sich dabei handeln konnte, blieb Zhu ein Rätsel.
    Daher war er erstaunt, als Sun Bingjun durch die Tür trat und – so wie Zhu es bei Milo Weaver gemacht hatte – einen Posten mitbrachte, der zwei abgenutzte Bänke hereintrug. Langsam rappelte sich Zhu hoch. Sun Bingjun ließ sich auf einer Bank nieder und faltete die Hände vor dem Bauch. Zhu nahm ebenfalls Platz.
    Als der Wachmann verschwunden war, fragte Sun Bingjun: »Wie fühlen Sie sich, Xin Zhu?«
    »Nicht gut.«
    »Ich habe Sung Hui besucht, um sie zu beruhigen.«
    Zhu versuchte irgendwelche Absichten im Gesicht seines Gegenübers zu erkennen, doch Sun Bingjun war ein Meister der Ausdruckslosigkeit. »Wie geht es ihr?«
    »Sie macht sich natürlich Sorgen. Ich habe ihr versichert, dass Sie morgen wieder zu Hause sind.« Sun Bingjun breitete die Hände aus. »Hoffentlich habe ich ihr keine Lüge erzählt.«
    Eine seltsame Bemerkung und auch beunruhigend,

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