Die Spinne (German Edition)
doch als Zhu ihn ansah und innerlich mit der Hoffnung rang, dass sich Sun Bingjuns Versprechen bewahrheiten könnte, dämmerte ihm etwas. Es war mehr Instinkt als Logik, denn erst nachdem ihn eine Ahnung gestreift hatte, ging er die Abfolge der Ereignisse Schritt für Schritt in umgekehrter Richtung durch, um zu sehen, ob er recht hatte. Die Besuche von Touristen, Stuart Jacksons nahezu unfassbares Bekenntnis gegenüber Liu Xiuxiu, die Tatsache, dass Sun Bingjun offenbar nicht der verkrachte Säufer war, den er so lange gemimt hatte, und der zu einem ausgesprochen günstigen Zeitpunkt aufgetauchte Brief von Bo Gaoli zusammen mit der Ermordung seiner Frau.
Und dann fiel ihm das Gesicht des Soldaten ein, der ihn zur Zelle gebracht hatte: Sun Bingjuns Chauffeur war ein Soldat, der Zugang zu den Zellen des Ministeriums hatte.
Mit schmerzenden Beinen setzte er sich zurecht und stützte die Hände auf die Knie. »Sie sind gekommen, um mir ein Angebot zu machen.«
Wortlos starrte ihn Sun Bingjun an.
»Sie haben mir geholfen, Wu Liang in die Enge zu treiben, damit der Verdacht nicht auf Sie fällt.«
»Gar nichts habe ich«, erwiderte Sun Bingjun. »Sie haben Beweise gesammelt. Hua Yuan hat Sie angerufen, bevor sie ermordet wurde. Ich habe nichts mit dieser Sache zu tun.«
»Hat Ihr Chauffeur neben ihr gesessen, als sie mit mir telefoniert hat?«
Sun Bingjuns Miene blieb unbewegt.
»Schlau.« Zhu war wirklich beeindruckt. Sun Bingjun hatte einen Ministeriumssoldaten bestochen, der in der Lage war, Bo Gaoli zu beseitigen. Bo Gaoli, der Sun Bingjuns Geheimnis kannte. »Warum hat Bo Gaoli Sie nicht gleich bei Wu Liang verraten, als er hier eingesperrt war?«
Sun Bingjun blinzelte nur.
»Vielleicht weil er wusste, dass Wu Liang mein Feind ist, und weil er Angst hatte, dass Wu Liang das Ganze verheimlichen würde, um mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Möglicherweise ging er davon aus, dass ihn Wu Liang wegen Erpressung verhaften würde, denn natürlich waren Sie es, den er erpresst hat. Oder er dachte, Sie retten ihn, um sich selbst zu retten. Was auch immer der Grund war, auf jeden Fall haben Sie dafür gesorgt, dass er es sich nicht mehr anders überlegen konnte.«
Sun Bingjuns Beherrschung war wirklich bewundernswert. Nichts brachte ihn aus der Fassung. Natürlich – nur so konnte man jahre- oder gar jahrzehntelang als Agent kapitalistischer Aggression überleben. Und fügte man noch den Ruf eines Alkoholikers hinzu, war man über jeden Verdacht erhaben.
Zhu wartete auf etwas, doch Sun Bingjun hatte offenbar keine Lust auf Erklärungen. Aber er traf auch keine Anstalten zum Aufbruch. »Was war mit diesem Brief?«, fragte Zhu schließlich, denn der Brief war das letzte, entscheidende Beweisstück gewesen, das im Nachhinein zeigte, wie verzweifelt Sun Bingjun zu diesem Zeitpunkt bereits war. »Auf der ersten und letzten Seite waren Bo Gaolis Fingerabdrücke – heißt das, dass diese Seiten der echte Brief waren, den er mir geschrieben hat? Dass alles dazwischen, wo Wu Liang als Maulwurf genannt wird, gefälscht war? Ziemlich schlampig, Sun Bingjun. Das ist der gesprungene Ziegel, der das ganze Lügengebäude zum Einsturz bringen wird.«
Sun Bingjun nickte, als würde er einen triftigen Einwand gelten lassen. »Sehr wahr, Xin Zhu. Man muss nur einen genaueren Blick auf diesen Brief werfen – auf den Brief, von dem ich durch Sie erfahren habe. In der Ausschusssitzung habe ich angegeben, dass Sie bei meiner Ankunft vor dem Haus auf mich gewartet haben, und Sie haben mich nicht korrigiert. Das Gerät hat alles aufgenommen. Woher soll ich wissen, was Sie vor meinem Eintreffen getan haben?«
Zhu dachte zurück und verharrte kurz bei einzelnen Stationen. Die Ermordung von Bo Gaoli und Hua Yuan. Die Ausschusssitzungen, in denen sich Sun Bingjun dafür eingesetzt hatte, dass Zhu Zeit für weitere Nachforschungen erhielt. Seine Aufforderung an Zhu, die amerikanischen Agenten in Hongkong zu töten. »Sie wissen etwas.«
Sun Bingjun musterte ihn fragend.
»Milo Weaver und Leticia Jones. Einer von ihnen weiß was. Oder beide. Sie wollten, dass ich sie liquidiere, um sie zum Schweigen zu bringen.«
Endlich gab Sun Bingjun seine Zurückhaltung auf und lächelte. Er beugte sich vor und tätschelte Xin Zhus Schenkel. »Solange Sie davon überzeugt sind, bin ich zufrieden.«
»Wo sind die beiden jetzt?«
»In einem Flugzeug. Auf dem Weg nach Hause.« Mit offenen Handflächen hob Sun Bingjun die Arme. »Darum haben
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