Die Spur der Hebamme
Raubvogelgesicht!
Schnell sah sie wieder nach vorn. Wenn sie zu erkennen gab, welches Entsetzen sie in seiner Gegenwart verspürte, würde niemand mehr glauben, dass sie vergessen hatte, was seit ihrer Verhaftung geschehen war.
Elisabeth, die neben ihr stand, hatte ihre hastige Bewegung bemerkt und blickte in die gleiche Richtung. Auch sie fuhr zusammen, doch Marthe presste ihre Hand, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie sich nichts anmerken lassen durfte. Elisabeth begriff sofort, was auf dem Spiel stand, setzte ihre frömmste Miene auf und sah zu, wie der Bischof die Hostie hob.
Natürlich war Christian der stumme Aufruhr an seiner Seite nicht entgangen. Ihm war der Geistliche mit den hassverzerrten Zügen, die etwas Raubvogelartiges hatten, bereits beim Betreten der Kirche aufgefallen. Nicht nur, weil ein Diener Gottes frei von Hass sein sollte, sondern vor allem deshalb, weil der Fremde Marthe nicht aus den Augen ließ. Seine Instinkte als Kämpfer waren darauf geschult, einen Feind zu erkennen.
Er sah, dass Marthes Beine für einen Moment wegknickten und sie schneeweiß vor Entsetzen wurde beim Anblick des Fremden. Schnell fasste er nach ihrem Arm, um ihr Halt zu geben, während sie nun wieder starr geradeaus sah und so tat, als würde sie der Messe folgen.
»Wer ist das?«, flüsterte er Marthe zu.
»Ich kenne seinen Namen nicht«, brachte sie mit zittriger Stimme hervor. Um nichts in der Welt durfte sie Christian sagen, was ihr das Raubvogelgesicht angetan hatte. Wenn er sich an einem Gottesmann vergriff, würden sie beide zu Tod und ewiger Verdammnis verurteilt werden.
Nach Christians Meinung konnte Marthes Reaktion auf das Raubvogelgesicht nur eines bedeuten: Der Fremde musste etwas mit ihrer Verhaftung und dem Verhör zu tun haben.
Sie war bis zu diesem Tag nicht in der Lage, darüber zu sprechen, was sie ihr angetan hatten, und er drängte sie nicht dazu, weil er befürchtete, das Grauen in allen Einzelheiten noch einmal zu durchleben, könnte sie erneut in Agonie fallen lassen.
Aber er hatte die Folterspuren auf ihrem Körper gesehen, er hatte noch Wort für Wort in Erinnerung, was ihm die fremde Magd von der Wasserprobe und Marthes Zustand berichtet hatte, als er nach ihr gesucht hatte.
Wenn das Raubvogelgesicht derjenige war, der sie an Leib und Seele verstümmelt hatte, dann würde er nicht ruhen, bis er sich an ihm gerächt hatte. Auch wenn ihm dafür das Höllenfeuer sicher war. Dieser Mann, das verriet ihm dessen hassverzerrte Miene, würde nicht eher aufgeben, bevor er nicht Marthe vernichtet hatte, was immer auch seine Beweggründe dafür waren. Er musste Erkundigungen einziehen, aber so vorsichtig, dass niemand ihn mit dem plötzlichen Verschwinden des Geistlichen in Verbindung brachte.
Christian nutzte das Gedränge am Ende der Messe, um sich zu Elisabeth hinüberzubeugen. »Woher kennst du diesen Mann?«, flüsterte er ihr zu und wies vorsichtig mit dem Kopf in die Richtung des Raubvogelgesichts.
»Er hat damals Marthe in unserer Halle verhaftet«, sagte sie leise mit gepresster Stimme.
Und ihr schon dort Fesseln anlegen lassen, brachte er ihren Satz in Gedanken zu Ende. Damit hatte er das Urteil über sie schon gefällt. Aber warum? Wer steckte dahinter? Und war er auch derjenige, der sie hatte martern lassen? Er musste absolut sicher sein, bevor er den Mann tötete. Aber lieber wollte er im Höllenfeuer schmoren als Marthe noch einmal verlieren.
Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich unter den gutinformierten Wirten oder den Klatschweibern auf dem Markt umzuhören, die bei der Wasserprobe dabei gewesen waren. Doch schnell ließ er den Gedanken fallen. Von ihnen würde er nicht mehr erfahren, als er ohnehin schon wusste. Was wirklich im Kerker vorgefallen war, wusste außer Marthe, dem Folterknecht und den Wachen nur einer: Ekkehart. Er war dort gewesen und hatte es aus nächster Nähe gesehen, bevor er Marthe aus unerfindlichen Gründen aus dem Verlies gerettet hatte.
Doch Ekkehart war vor ein paar Tagen überraschenderweise abgereist. Und durfte er sich in dieser gefährlichen Sache ausgerechnet an einen Mann wenden, dem er nicht trauen konnte?
Das Festmahl in Ottos Halle verlief in ausgelassener Stimmung. Otto hatte Spielleute und Gaukler eingeladen und brachte immer wieder Trinksprüche auf die glücklich überstandene Entbindung seiner Gemahlin und seine neugeborene Tochter aus.
Hedwig wirkte noch angegriffen, aber deutlich erleichtert.
Als
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