Die Spur der Hebamme
beanspruchten sie, die Fieberseuche, die nun endlich abflaute, und die vielen anderen Dinge, die getan werden mussten, um den großen Haushalt in Gang zu halten. Außerdem stand das Osterfest bevor, das von den Dorfbewohnern freudig erwartet wurde, denn es brachte das Ende der Fastenzeit und die Hoffnung auf mehr Wärme und neues Leben in Feld und Flur. Gemeinsam mit Mechthild überprüfteMarthe sämtliche Vorräte und rechnete zusammen, was noch beschafft werden musste. Auch Christian war Tag für Tag unterwegs, kümmerte sich um die Ausbildung der Wachleute, sprach mit dem Bergmeister über die Erträge aus den Gruben, besuchte die Schmelzer in ihren Hütten und machte mit Jonas und Karl Pläne für die zweite Schmiede.
Doch abends, wenn sie endlich Zeit füreinander hatten, wurde ihr das Herz immer schwerer.
»Ich dachte, mit der Zeit wird es leichter für mich, wenn du fortgehst, aber es wird jedes Mal schlimmer«, sagte sie und lehnte sich bekümmert an ihn.
»Ich ziehe ja nicht in den Krieg«, versuchte er sie zu trösten. Ein schwacher Trost, wie beide wussten. Jeder von ihnen konnte jeden Tag sterben – an einer heimtückischen Krankheit, bei einem Unfall, einem Brand oder einem Überfall.
Erneut schreckte Marthe tief in der Nacht aus dem Schlaf – wie so oft in den letzten Tagen. Aber diesmal war es nicht der wiederkehrende, verstörende Alptraum von den Spinnenfingern im Kerker, der sie geweckt hatte. Obwohl der ganze Haushalt schon schlief, war ihr, als hätte sie ein merkwürdiges Geräusch gehört, etwas, das aus der Halle kam.
Ihr erster Gedanke: Feuer! Doch sie roch keinen Rauch. Hatte sich jemand ins Haus geschlichen? Beklommen sah sie auf das leere Bett neben sich.
Christian war am Morgen zu seinem Freund Raimund geritten, der als Ritter ebenfalls in Markgraf Ottos Diensten stand und dessen Ländereien unmittelbar an Randolfs grenzten. Vor seiner Abreise zum Hoftag wollte er unbedingt herausfinden, ob sein Gegner inzwischen auf dem Familienbesitz eingetroffen war.
Wenn sie jetzt nach Lukas oder einer der Wachen rief, würde sieden ganzen Haushalt aufwecken. Also beschloss sie nach einigem Zögern, zuerst allein nachzusehen, wer oder was sich in der Halle zu schaffen machte. Wenn es gefährlich werden sollte, konnte sie immer noch Hilfe herbeirufen.
Sie nahm den Dolch, den sie stets griffbereit unter dem Kissen aufbewahrte, wenn Christian nicht da war, und zog sich ihren Umhang über. Barfuß und bemüht, ja kein Geräusch zu machen, schlich sie die Treppe hinab und zählte die Stufen, um diejenigen auszulassen, die besonders laut knarrten. Es war eiskalt und finster im Haus, doch bald sah sie einen schwachen Lichtschein von unten.
Wie konnte das sein? Sie hatte doch wie jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Kontrollgang durchs Haus gemacht, damit alle Kerzen gelöscht und das Herdfeuer gedeckt waren. Jede Hausfrau tat das. Die Gefahr war viel zu groß, dass aus purer Leichtsinnigkeit ein Brand ausbrach.
Sie lief schneller und kümmerte sich nun nicht mehr um knarrende Stufen. Von unten hörte sie ein gequältes Stöhnen, dann etwas hart auf Holz prallen. War jemand verletzt?
Marthe war auf vieles gefasst, als sie die Halle erreichte, aber nicht auf diesen Anblick. Im Schein einer Kerze saß Lukas am Tisch. Den Kopf hatte er in eine Hand gestützt, in der anderen hielt er einen Becher, vor ihm stand ein großer Krug. Er bot einen Anblick dumpfer Verzweiflung, und als er nach ihrem leisen Aufschrei hochblickte, erkannte sie, dass er auf bestem Weg war, sich hoffnungslos zu betrinken.
So hatte sie ihn noch nie erlebt. Lukas war sonst stets ein Beispiel an Lebenslust gewesen, zumeist mit einem frechen Spruch auf den Lippen und oft sorglos, wenn auch selten leichtsinnig.
»Was ist mit dir?«, brachte sie hervor, während sie zum Tisch stürzte, den Dolch fallen ließ und nach seiner Hand griff.
Lukas sah sie an und schien eine Weile zu brauchen, ehe er sieerkannte. Dann schüttelte er wortlos den Kopf und nahm einen tiefen Schluck.
»Dir wird morgen mächtig der Schädel dröhnen, wenn du nicht damit aufhörst und ins Bett gehst«, redete sie auf ihn ein.
»Macht nichts. Dann muss ich wenigstens nicht mehr denken«, antwortete er brüsk, entzog ihr seine Hand und wollte sich neu einschenken. Entschlossen griff Marthe nach dem Krug und schob ihn weg, so dass Lukas ihn nicht mehr erreichen konnte, ohne aufzustehen. Seiner Miene war anzusehen, dass er mit sich kämpfte, ob er nun mit
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