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Die Spur der Kinder

Titel: Die Spur der Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Winter
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verlieren.
    »Was fällt dir ein? Du weißt genau, dass du dich mir nicht auf mehr als fünfzig Meter nähern darfst!«
    Sie hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. Die Haare waren jetzt stoppelkurz, und mit seiner langen Nase und dem fliehenden Kinn hatte er etwas von einer Ratte.
    Jens Zach steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden, und schritt auf Fiona zu.
    »Na, überrascht, mich zu sehen? Ist ja immerhin schon ’n Weilchen her, seit wir das letzte Mal das Vergnügen miteinander hatten. Aber was sind schon zwei Jahre Knast gegen ein ganzes Leben.«
    Unmerklich wich Fiona zurück.
    Zach grinste. »Dank guter Führung bin ich wieder draußen.«
    »Nocheinen Schritt weiter und ich rufe die Polizei!«, fauchte Fiona und hob abwehrend die Hände.
    »Fiona, krieg dich ein, ich …«
    »Keinen Schritt, hab ich gesagt!«
    »Nun reg dich ab, die Sache ist ewig her. Ich tu dir schon nichts«, sagte er und trat ungeduldig auf der Stelle. Schon während Fionas Vorlesungen damals war es ihm unmöglich gewesen, bis zum Ende still sitzen zu bleiben. »Ich will dir doch nur was geben.«
    »Was auch immer es ist, ich will es nicht haben!«, keifte Fiona, fassungslos, dass sie nach allem, was geschehen war, mit Jens Zach um Mitternacht im Stadtpark stand und diskutierte.
    Zach spuckte die Zigarette aus dem Mund. »Ach wirklich? Da bin ich mir aber nicht so sicher.«
    »Verschwinde!«, brüllte Fiona, rannte überstürzt davon und verschwand kurz darauf im nächtlichen Getümmel zwischen feierwütigen Touristen und Prostituierten auf der Oranienburger Straße.

Samstag,13. Juni
    (Rund eine Autostunde vor Berlin)
    Anne riss die Augen auf, als sie ein Fiepen neben ihrem Ohr weckte . Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, als sei nicht sie selbst, sondern jemand anders in diesem Keller, der nur so aussah wie sie. Jegliche Hoffnung, sie würde aus einem Traum in ihrem Bett erwachen und sich an Lars’ schlafwarme Brust schmiegen können, machte der vertraute Schmerz, der jetzt durch ihre Handgelenke fuhr, schlagartig zunichte. Annes Mund war staubtrocken. Sie streckte ihre Zunge nach den Tropfen aus, die vereinzelt von der Decke fielen, als das Fiepen plötzlich wieder dicht neben ihr war.
    Ratten.
    Panisch rieb sie ihre hinter dem Rücken gefesselten Hände am Heizungsrohr auf und ab. Das Seil scheuerte an ihren wunden Handgelenken. Nach wenigen Versuchen hielt sie abrupt inne. Im schwachenLicht, das von nebenan durch die Holzschlitze sickerte und helle Bahnen in die Dunkelheit zeichnete, bemerkte sie auf einmal, dass sie ganz allein war – der kleine Junge, der zuletzt reglos in der Ecke gekauert hatte, schien wie vom Erdboden verschluckt. Sie kniff die Augen zusammen und tastete sich mit ihren Blicken im Raum vor. Wahrhaftig, der Junge war weg. Und plötzlich kam ihr wieder diese seltsame Gestalt in den Sinn, eine einzige schwarze Masse, die ächzend die Leiter herabgestiegen war und sich ihnen mit großen Schritten genähert hatte, bevor Anne das Bewusstsein verloren hatte. Dunkel erinnerte sie sich an die Schreie des Jungen. Sie waren aus dem Nachbarraum gedrungen, kraftlos und gedämpft, wie hinter vorgehaltener Hand. Vielleicht waren es Stunden, vielleicht Tage, bevor sie langsam verebbt und Anne beinahe ebenso unwirklich vorgekommen waren wie der Gesang eines Kinderchors, der währenddessen erklungen war. Und mit einem Mal überkam sie eine schreckliche Vorahnung: Wenn der Junge weg ist, dann bist du die Nächste.
    Anne erschauderte. Sie spähte zur Decke, an der sich im hinteren Teil des Raums die schwachen Umrisse der Luke abzeichneten. Doch die stickige Luft und der bestialische Gestank, vor allem aber der Hunger und der entsetzliche Durst machten es ihr beinahe unmöglich, noch irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Sie unternahm einen letzten Versuch,die Fesseln zu lösen, die inzwischen von Schweiß und Blut durchtränkt waren, und wollte gerade aufgeben, da war ihr, als ob das Seil plötzlich ein ganz klein wenig nachgab. Sie zwang sich, weiterzumachen, obwohl der brennende Schmerz jede Faser ihrer Handgelenke durchdrang. Anne wurde schwindelig, und sie drohte erneut in einen Dämmerzustand zu fallen.
    Anne Lemper! Du reißt dich jetzt zusammen, wenn du hier lebend rauskommen willst!
    Und mit einem Mal war da dieser winzige Abstand zwischen ihrem Handgelenk und dem Heizungsrohr. Anne presste die Lippen aufeinander und unterdrückte einen Schrei, als sie ihre Hände mit einem

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