Die Spur der Kinder
heftigen Ruck aus den Fesseln riss. Sekundenlang wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie die Orientierung wiederfand, legte sie ihren Kopf in den Nacken und sah halb klar, halb verschwommen zu der Leiter hinauf, die zur Deckenluke führte. Sie war in gut einem Meter Höhe an der Wand neben dem Bretterverschlag befestigt. Anne spürte einen letzten Funken Energie in sich aufwallen, der den Schmerz kurzzeitig betäubte. Sie befahl sich aufzustehen, hatte Mühe, ihre Beine anzuheben, und stolperte auf fast tauben Füßen Richtung Leiter.
Keuchend taumelte sie durch den Raum, bis sie gegen die gegenüberliegende Wand aus ungehobelten Dachlatten und Stacheldraht prallte. Mit der rechtenHand griff sie nach einer der unteren Sprossen. Das Blut rann ihr vom Handgelenk in die Armbeuge. Als sie die linke Hand ausstrecken wollte, um sich an der Leiter hochzuziehen, spürte sie es plötzlich: Sie hatte keinerlei Kontrolle mehr über ihren linken Arm, der schlaff wie ein fehlerhaft montierter Fremdkörper an ihr herunterhing . Sosehr sie sich auch anstrengte, der Arm wollte ihr nicht gehorchen.
Verdammt!
Hilflos sah Anne die Leiter hinauf. Mit letzter Kraft hielt sie sich einhändig daran fest und suchte mit ihren Riemchensandalen Halt in den Ritzen der spröden Wand, um sich hochzustemmen. Doch dann passierte es: Die schmalen Bretter und der Stacheldraht gaben nach und stürzten krachend in sich zusammen. Mit einem Schrei schlug Anne rücklings auf dem Boden auf.
***
(Berlin-Friedrichstraße)
Als Fiona das Haus am frühen Abend verließ, schlug ihr jene drückende Schwüle entgegen, die schon seit Tagen in den Straßen Berlins stand. Fiona schlängelte sich durch das abendliche Menschengewimmel bis zur Tram-Haltestelle Berlin-Friedrichstraße.Ungeduldig sah sie auf die LED -Anzeige. M1 Richtung Eberswalder Straße. Abfahrt in vier Minuten.
Sie steckte sich einen weiteren Kaugummi in den Mund und warf einen prüfenden Blick auf den Zettel, auf dem sie die Adresse aus dem Internet notiert hatte, als sie plötzlich jemand anstupste. Fiona riss den Kopf zur Seite und ließ den Zettel hastig in ihrer Hosentasche verschwinden.
»’tschuldigung, kein Grund zur Panik«, maulte das Mädchen, höchstens achtzehn, mit pinken Zöpfen, zerrissenen Netzstrumpfhosen und Springerstiefeln. Sie streckte Fiona eine Büchse mit Münzen entgegen.
»Wollt’ Sie nicht erschrecken. Wollt’ nur fragen, ob Sie’n paar Cent für mich haben.«
Erleichtert lächelte Fiona.
Kein Grund zur Panik. Niemand weiß, wohin du willst.
Mit einer hektischen Handbewegung warf sie einen Euro in den Becher. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, angestarrt zu werden. Einen Augenblick lang war ihr sogar, als habe sie Jens Zachs rostroten Fiat Punto gesehen, verwarf den Gedanken jedoch wieder.
Noch bevor die Tram einfuhr, stieg Fiona in ein Taxi. »Zur St.-Justus-Gemeinde bitte, Pappelallee.«
Der Taxifahrer, ein Berliner Original mit Ohrenpiercings und ausgewaschenem T-Shirt, drehte sichzu ihr um. »Wat wolln Se da machen? Ick meen, an welchem Einjang soll ick Se denn da rauslassen?«
Fiona holte tief Luft und machte eine wegwischende Handbewegung. »Es … es gibt nur einen Eingang.«
Unschlüssig betrachtete sie der Fahrer im Rückspiegel. »Is jut.«
Höchstens sieben, acht Minuten später hielt er vor einem maisgelben Gebäude.
In dem beschaulichen Gemeindezentrum war nichts von den hochsommerlichen Temperaturen, die draußen vorherrschten, zu spüren. Verunsichert schaute Fiona sich um. Zu ihrer Linken hing ein Schaukasten, in dem die Gemeinde mit selbstgestalteten Plakaten für ihre Aktivitäten warb. Fiona überflog die Angebote, konnte aber lediglich Hinweise auf den Gemeindechor und ein Sommerfest entdecken. Sie kramte den Zettel wieder hervor, zog das Papier glatt und las: AA-Meeting, St.-Justus-Gemeinde, 1. Stock rechts.
Fiona sah einen breiten Flur entlang, der zu einem begrünten Innenhof führte. Daneben geschlossene Türen. Noch einmal warf sie einen Blick auf den Zettel. Und gerade als sie sich dabei ertappte, eine Ausrede gefunden zu haben, um wieder zu gehen, blieb eine schlanke, hochgewachsene Frau mit feuerrot gefärbten Haaren vor dem Eingangstehen. Die Frau, eine herbe, aber zweifelsohne attraktive Erscheinung, trat ihre Zigarette aus und stöckelte über den Steinboden des Foyers auf einen schmalen, etwas versteckt hinter einem Pappaufsteller gelegenen Treppenaufgang zu.
Fiona räusperte sich. »Entschuldigen Sie, wissen Sie
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