Die Spur der Kinder
ohnmächtig gewesen war, als sie die Augen öffnete und der Schmerz des Aufpralls in ihrem Hinterkopf nachhallte. Sie lag inmitten der hölzernen Trümmer, die jetzt die Sicht auf eine kleine Kammer freigaben. Der Verwesungsgestank erschien ihr hier noch stärker. Ächzend hob sie den Kopf an und blinzelte, geblendet von der plötzlichen Helligkeit , in den spärlichen Raum. Blaue und rote Flecken drangen in den Vordergrund, bevor Annes Augen sich allmählich an das Licht gewöhnten. Alles, was sie erkennen konnte, war ein Campingtisch, auf dem ein Glas mit rostigen Rasierklingen stand. Daneben ein giftgrüner Plastik-Dinosaurier und schmutzige Kinderturnschuhe.
Die Schuhe des kleinen Jungen. Was ist bloß mit ihm geschehen?
Annesah sich weiter um. Ein alter Spaten lehnte an einem mit Spinnweben überzogenen Wandregal, in dem sich vergilbte Bücher, bräunliche Flaschen mit Totenkopfzeichen und Einmachgläser, in denen in trüber Flüssigkeit etwas Verblichenes, Hautfarbenes schwamm, aneinanderreihten. Der Tod scheint hier allgegenwärtig .
Ihre Augen wanderten weiter zu einer verstaubten Kommode, auf der welke Lilien und heruntergebrannte Kerzen neben einem Stofftier standen. Darüber hing ein Spiegel, der aussah wie frisch poliert. Anne hielt plötzlich inne. Ihr Blick blieb an einer Kette am Spiegel haften, an der ein schwarzes Kreuz hing. Erst bei genauerem Hinsehen fiel Anne auf, dass an der Wand noch weitere schwarze Kreuze hingen.
Was hat das alles zu bedeuten?
Anne kniff die Augen zusammen und betrachtete die große Holzkiste im hinteren Teil der Kammer. Sie wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass sie darin eine Antwort finden würde, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm, das ihr den Atem stocken ließ – sie war nicht allein hier unten! Wer auch immer sie hier festhielt, war zurückgekommen.
Hektisch versuchte Anne, sich aufzurichten, da bemerkte sie, dass ihr Fuß unter den mit Nägeln beschlagenen Brettern eingeklemmt war.
Nein! Komm schon! Mit aller Kraft zerrte sie an ihremBein, doch sie hing fest. Zitternd ließ sich Anne zurück auf das Holz sinken. Sie weinte. Sie weinte aus tiefstem Herzen und unendlicher Verzweiflung.
Da ertönte das leise Rasseln einer Kette. Sie sah, wie sich eine Tür aufschob, die sich beinahe unmerklich von der Wand abgrenzte. Anne erstarrte. Alles in ihr schrie vor Angst, doch sie traute sich kaum mehr zu atmen, während sie die Augenlider jetzt, so fest sie konnte, aufeinanderpresste und betete, dass es nur ja schnell gehen würde.
***
(Zur selben Zeit in Berlin-Mitte)
Um kurz vor halb neun wurden Fiona und Adrian durch das Klingeln des Telefons geweckt. Stöhnend drehte Adrian sich zur anderen Bettseite. »Das darf doch nicht wahr sein. Da kann man einmal ausschlafen … Welcher Idiot ruft denn am Sonntag um diese Uhrzeit an?«
Fiona gähnte und zog sich die Decke über den Kopf. Auch sie machte keinerlei Anstalten, ans Telefon zu gehen.
Als es erneut klingelte, sprang Adrian wütend aus dem Bett und stampfte in den Flur. »Adrian Riedel. Hallo? Hallo! Wer ist denn da? Ts, einfach aufgelegt«,schnauzte er. »Ach, was soll’s, dann mach ich eben Kaffee.«
»Gute Idee«, meinte Fiona und streckte sich gähnend im Bett aus.
»Vielleicht hast du ja einen Liebhaber?«, drang es aus der Küche, bevor das Gurgeln der Kaffeemaschine ertönte.
»Vielleicht«, lachte Fiona. »Aber ganz bestimmt keinen, der mich am Sonntagmorgen anruft.«
Als Fiona in Hausschlappen und übergroßem Pyjamaoberteil die Küche betrat, war der Tisch bereits gedeckt. Adrian war in die Sonntagszeitung vertieft und schmierte beiläufig seinen Toast. Fiona setzte sich.
»Du hast mich übrigens gar nicht gefragt, wie es gestern gelaufen ist«, sagte sie und nippte an ihrer Kaffeetasse.
Adrian hob den Blick und unterdrückte ein Gähnen. »Gestern?«
Kopfschüttelnd stellte Fiona ihre Tasse ab und umklammerte sie mit beiden Händen, wie um sich daran festzuhalten.
»Ach, stimmt ja«, meinte er dann und rieb sich die Augen, »du warst bei dem Treffen mit diesen Leuten.«
»Diesen Leuten?« Fiona zog ihr aufklaffendes Pyjamaoberteil zusammen.
»Den Anonymen Alkoholikern«, sagte Adrian betont.
Seinspitzer Unterton gefiel ihr nicht, und kurzzeitig herrschte ein gespanntes Schweigen zwischen ihnen.
»Vielen Dank der Nachfrage, es lief für den Anfang ganz okay. Ich glaube, es hat mir gutgetan, dort hinzugehen, auch wenn ich nicht wirklich viel gesagt habe«, redete sie vor sich
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