Die Spur des Drachen
Stammesangehörigen der Kamajor, von der Regierung in einer Art Miliz organisiert, reihten sich entlang der Straße. Die Kamajors in ihren fließenden Gewändern und den Netzhemden saßen in Jeeps, mit Gewehren und Granatwerfern bewaffnet. Sie schenkten dem vorbeifahrenden Taxi meist keine Beachtung. Außer den Kamajors sahen Ben und Danielle kaum Menschen auf den Straßen. Seit dem letzten fehlgeschlagenen Versuch der Revolutionären Einheitsfront, die Hauptstadt einzunehmen, war die Bewegungsfreiheit der Einwohner Freetowns drastisch eingeschränkt worden. Ausgangssperren waren zur Regel geworden; selbst wenn sie nicht verhängt wurden, war die Unfähigkeit der Regierungstruppen und der Kamajors, die Einwohner von Rebellen zu unterscheiden, Grund genug, dass die Bewohner der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht verließen.
Sie fuhren an einem verlassenen Bazar am Strand von Susans Bay vorbei. Ben und Danielle hörten die leisen Geräusche des Meeres, und für kurze Zeit wurde ihnen eine Illusion von Frieden gewährt – bis in der Ferne Tausende von Lagerfeuern aufflackerten, entzündet von vertriebenen Bewohnern, die jetzt den Strand ihr Zuhause nannten. Lodernde Fackeln in der Hand der verlorenen, die auf ewig versuchten, ihren Weg nach Hause zu finden.
Das Taxi setzte Ben und Danielle wenige Blocks weiter an den Regierungsgebäuden ab, von denen aus die Kabbah-Regierung während der letzten vier Jahre über das Land geherrscht hatte. Sie hatten keine Ahnung, was sie erwartete. Alles hing davon ab, ob die jordanische Regierung Kabbah davon hatte überzeugen können, sich anzuhören, was Danielle und Ben ihm zu berichten hatten.
Nur wenige andere private Fahrzeuge fuhren durch die Straßen von Freetown; ansonsten wurden sie von Lastwagen des Militärs, Jeeps, bewaffneten Truppentransportern und vor allem von Waffen beherrscht, getragen von Soldaten in der irrigen Annahme, Kugeln könnten jedes Problem lösen.
Ben und Danielle sahen einander schweigend an. Wie bekannt ihnen das alles vorkam! Andere Namen, andere Uniformen, aber ähnliche Probleme. Gewalt anstelle von Vernunft und gesundem Menschenverstand.
»Wo sollte ich Sie noch mal rauslassen?«, fragte der Taxifahrer in dem besten Englisch, zu dem er fähig war, offenbar geängstigt von Freetown im Dunkeln.
»An den Regierungsgebäuden«, erklärte Ben.
»Sind für Öffentlichkeit geschlossen und verbarrikadiert«, protestierte der Taxifahrer jammernd. »Nicht hin. Nicht nah kommen.«
»Dann fahren Sie eben so nahe heran, wie Sie können«, sagte Danielle.
Der Fahrer hatte sich gerade zu ihr umgedreht, um erneut zu protestieren, als die Lichter Freetowns einmal kurz aufflackerten und dann erloschen.
89.
Latisse Matabu legte den Hörer zurück auf den Tisch. Die Luft in ihrem unterirdischen Bunker war schal, und ihr fiel plötzlich das Atmen schwer.
Es fängt an. Mein Schicksal wird sich bald erfüllen …
Der Angriff auf Freetown hatte wie geplant begonnen, mit einem kleinen Team ihrer besten Männer. Sie hatten die Aufgabe, die Elektrizitätswerke zu überrennen, die die Hauptstadt mit Strom versorgten. Es waren disziplinierte Soldaten, die ihr Handwerk unter fremden Flaggen gelernt hatten, bevor sie sich der Revolutionären Einheitsfront anschlossen. Ihre Befehle lauteten, das Kraftwerk nicht irreparabel zu beschädigen; schließlich wollte man den Strom in ein paar Tagen wieder einschalten, um eine neue Regierung zu präsentieren.
Soweit war alles nach Plan verlaufen. Matabus Generäle hatten ihre Einheiten in einem Ring um Freetown herum postiert. Der Ring reichte im Süden bis Kagboro Creek und im Norden bis Lungi, wo der Flughafen sich bald in der Hand der Rebellen befinden würde. Der Plan sah vor, Präsident Kabbahs Regierungstruppen aufzusplittern. Dies würde es General Langanga ermöglichen, geradewegs über die Hügelkette einzufallen – durch die Ortschaft Gloucester, in der General Treest sich sein Zuhause eingerichtet hatte, bis hinein nach Freetown. Von dort aus würde Langanga den Hafen einnehmen und damit der RUF die Kontrolle über den wichtigsten Warenumschlagsplatz des Landes verschaffen.
Der Plan, der drei Jahre zuvor Matabus Eltern das Leben gekostet hatte, war durch das Gezänk und die schlechte Disziplin der RUF-Truppen unterminiert worden, die mehr am Plündern interessiert waren als an Politik. Seit ihrer Rückkehr nach Sierra Leone war alles, was Latisse Matabu getan hatte, auf diesen Moment
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