Die Spur des Verraeters
müsste er erst Mut schöpfen, bevor er hinzufügte: »Jeden, der in solchen Nächten in die Nähe des Hafens kam, hat Kiyoshi mit Pfeil und Bogen beschossen.«
»Dann hat er auf mich geschossen?«, sagte Sano erstaunt. Also waren nicht Hauptmann Nirin oder die Wachen auf Deshima die Schützen gewesen – und auch kein Meuchler, den Kammerherr Yanagisawa aus Edo entsandt hatte. Sano hatte Kiyoshis Motive geahnt, hatte aber nicht gewusst, dass der Junge so weit gehen würde, um den Vater zu schützen. Jetzt ergab auch Kiyoshis zusammenhangloses Gestammel in der Zelle einen Sinn. Nicht durch Schmuggelgeschäfte hatte er ›das eigene Interesse über das des Shogun und des Landes gestellt‹, sondern indem er seine Familie geschützt hatte, statt deren Verbrechen zu melden. Und das ›Blut an seinen Händen‹ war nicht das Blut von Jan Spaen oder Pfingstrose, sondern das Blut Sanos.
»Ich möchte mich für meinen Sohn entschuldigen«, sagte Ohira. »Er wollte Euch nicht verletzen; er wollte Euch lediglich Furcht einjagen. Als Ihr den Hafen trotzdem nicht verlassen habt, hat Kiyoshi vor Angst die Beherrschung verloren. Sein Warnschuss ging fehl und hat Euch getroffen.« Traurig schüttelte der Kommandant den Kopf. »Das kann seine Tat natürlich nicht entschuldigen. Er hat einen Vertreter der Shogun angegriffen, und das ist Verrat. Deshalb muss er bestraft werden. Genau wie ich selbst und der Rest meiner Familie.«
Sano hegte keine Feindschaft gegen den Jungen, der ihn beinahe getötet hätte. Er hätte das Gleiche getan, um seinen Vater zu schützen. »Wenn die Richter von Euren Verbrechen erfahren, wird ihnen keine andere Wahl bleiben, als die Todesstrafe zu verhängen«, sagte Sano. »Ich kann Euch nicht retten – aber das wollt Ihr sowieso nicht, habe ich Recht?« Ohiras Schweigen war Bestätigung genug. »Aber wenn ich meine volle Macht erst wiedererlangt habe, werde ich den bakufu dazu bringen, Eure Frau und Eure jüngeren Kinder von der Bestrafung auszunehmen.« So etwas hatte Sano bereits für die Familien anderer Verbrecher getan, sofern sich die Möglichkeit geboten hatte. »Auch Kiyoshi muss nicht sterben, wenn ich niemandem sage, was Ihr mir gerade anvertraut habt. Und ich werde den Mund halten – falls Ihr mir helft.«
Ohira starrte Sano an, als könnte er nicht glauben, was er da eben gehört hatte. »Natürlich«, sagte er schließlich. »Ich werde alles tun. Alles!«
»Dann sagt mir, wer Jan Spaen ermordet hat, und nennt mir die Namen sämtlicher Schmuggler.«
»Ich weiß sie nicht!«, stieß Ohira hervor, in dessen Gesicht sich wieder Verzweiflung schlich. »Ich war nicht dabei, als Spaen getötet wurde. Und in dieser Höhle bin ich nie gewesen. Als man Euch dort festnahm, hat der Hauptmann meiner zweiten Wachmannschaft das Boot befehligt.« Also war es Nirin gewesen, der Sano und Hirata durch den Hafen bis zur Höhle verfolgt hatte. »Meine Aufgabe bestand darin, das Inventarverzeichnis zu fälschen, die Bewachung Deshimas zu lockern und genug Leute zur Verfügung zu stellen.«
Und die Schuld auf dich zu nehmen, falls irgendetwas schief geht, dachte Sano, dessen Hoffnung schwand, die Verbrecher mit Ohiras Hilfe zu überführen. Wie geschickt von Statthalter Nagai, im Voraus für einen Sündenbock zu sorgen!
»Es tut mir Leid«, sagte Ohira. »Ich weiß wirklich nicht, wer die Schmuggler sind oder wer sie anführt.«
»Aber Ihr müsst doch Verbindung mit ihnen gehabt haben!«, erwiderte Sano, der jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen wollte.
»In meiner Schreibstube in der Stadt sind lediglich anonyme Nachrichten eingegangen. Ich habe nie herauszufinden versucht, von wem sie gekommen sind – ich wollte nicht mehr wissen als unbedingt nötig. Außerdem habe ich sämtliche Mitteilungen vernichtet.«
Mit anderen Worten: Es gab keine schriftlichen Beweise gegen Statthalter Nagai, Dolmetscher Iishino, Kaufmann Urabe oder sonst jemanden – nur gegen Kommandant Ohira lagen solche Beweise vor. Doch Sano gab noch nicht auf. »Was genau stand in diesen Nachrichten?«
»Der Tag und die Uhrzeit der einzelnen Schmuggelunternehmungen. Und der Ort, an dem meine Männer die Waren übernahmen …« Voller Abscheu verzog Ohira das hagere Gesicht, als würde ihm eine schreckliche Erinnerung zu schaffen machen.
»Was ist?«, fragte Sano.
»Gestern kam noch eine Nachricht. Morgen sollen meine Leute das restliche Schmuggelgut von der Insel schaffen.«
»Wann?«, wollte Sano wissen. »Und wohin?«
Wenn
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