Die Spur des Verraeters
das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er schließlich durch eine Tür stürmte und auf einen kleinen Hof gelangte, hinter dem die Mauer aufragte, die das Anwesen umschloss. In dem offenen Tor stand der kleine, dickliche Wachsoldat. Er hatte sein Schwert gezogen, und seine Augen waren gerötet von der Asche aus dem Holzkohlebecken, das Hirata nach ihm geschleudert hatte.
»Jetzt hab ich dich«, sagte er und starrte Hirata mit wütendem Triumph an.
Hirata blickte auf die Mauer. Sie war zu hoch und zu glatt, um sie zu überklettern. Hinter sich hörte er die Rufe weiterer Soldaten, die ins Haus eindrangen. Lachend sprang der kleine, untersetzte Wachsoldat vor, doch die Verzweiflung verlieh Hirata ungeahnte Kräfte. Mit der rechten Hand packte er den Schwertarm des Angreifers, während er ihm die Linke aufs Auge schmetterte. Der Wachsoldat heulte vor Schmerz auf. Hirata schleuderte ihn mit dem Rücken gegen die Mauer und entwand ihm das Schwert. Doch der Wachsoldat erholte sich rasch, zog sein Kurzschwert, eilte mit taumelnden Schritten zum Tor und verstellte Hirata erneut den Weg. Hirata hörte, wie die Soldaten sich näherten; hinter ihm hallten ihre Rufe über die Flure.
»Gib auf«, stieß der Wachsoldat keuchend hervor. »Du kannst nicht entkommen.«
Wieder sprang der Mann vor. Hirata parierte den Schlag, hieb mit dem erbeuteten Langschwert zu und schlitzte dem Gegner vom Kieferknochen bis zum Adamsapfel die Kehle auf. Ein Blutschwall schoss aus der Wunde, und mit einem grässlichen Gurgeln brach der Wachsoldat zusammen. Hirata ließ die blutige Waffe fallen; wenn jemand ihn mit diesem Schwert in der Hand sah, würde er als Mörder dastehen. Er sprang über die Leiche hinweg und rannte durchs Tor. Während er die Gasse hinunterstürmte, wurden die Rufe der Soldaten hinter ihm leiser. Ein Blick über die Schulter zeigte Hirata, dass er nicht verfolgt wurde. Er war entkommen.
Doch rasch verdrängte ein überwältigendes Gefühl bevorstehenden Unheils Hiratas Erleichterung. Er hatte einen Mann getötet. Man würde die Suche nach ihm verstärken. Er war unbewaffnet, seine Verkleidung nutzlos geworden. Wie sollte er Sano jetzt noch retten und seine Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen?
28.
A
ls das Kriegsschiff im Hafen anlegte und Sano die Laufplanke hinunterstieg, war der Abend der Nacht gewichen. Patrouillierende Soldaten trugen flackernde Laternen aus Metall, deren Rauch die feuchte Luft erfüllte. Stadtbewohner, die ihre wertvollsten Habseligkeiten auf dem Rücken geschnallt trugen, kämpften sich die steilen Straßen hinauf, als sie Nagasaki wegen des drohenden Krieges verließen. Über das Rauschen der Brandung und das leise Heulen des Windes hinweg hörte Sano ein seltsames, rhythmisches Geräusch, das aus dem Hügelland herunterwehte. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erregung erkannte er, dass es Kriegstrommeln waren. Der Samurai in Sanos Innerem hätte vor Freude jubeln müssen bei dem Gedanken, der Ehre dienen und die höchste Erfüllung darin finden zu können, sein Leben auf dem Schlachtfeld zu lassen, im Kampf für seinen Herrn, den Shogun, doch diese Empfindungen wollten bei ihm nicht aufkommen. Sanos Zorn auf das Regime der Tokugawa war viel zu groß; offenbar fühlte der bakufu sich nicht einmal dafür verantwortlich, eine Katastrophe für das eigene Land abzuwenden.
Als Sano langsam zurück nach Deshima ritt und nachdachte, nahm ein vager Plan Gestalt an. Falls die Schmuggler noch mehr Waren aus den Lagerhäusern holen und von der Insel schaffen wollten, mussten sie handeln, bevor das holländische Schiff anlegte und die neu eintreffenden Beamten der Ostindischen Kompanie diesen verbrecherischen Handel entdecken und ihm Einhalt gebieten konnten. Und gab es einen besseren Zeitpunkt als jetzt, wo die Truppen des Statthalters den Hafen bewachten? Diesmal brauchten die Schmuggler keine geheimnisvollen Lichter, um mögliche Zeugen zu verjagen.
Sano zügelte sein Pferd, als ein Offizier ihm in den Weg trat. »Reitet sofort nach Hause! Bis auf weiteres gilt ein nächtliches Ausgehverbot«, sagte der Mann. »Jeder muss von Sonnenuntergang bis zum Tagesanbruch in seiner Wohnung bleiben, von Personen mit Sondererlaubnis abgesehen.«
Sano beobachtete, wie Soldaten gemeine Bürger von den Straßen jagten. Zorn stieg in ihm auf. »Ich bin Gesandter des Shogun«, sagte er eisig. »Ihr habt mir gar nichts zu befehlen.«
»Reitet nach Hause, oder ich lasse Euch festnehmen«, erwiderte der Offizier
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