Die Spur des Verraeters
fürchtete den Schlaf ebenso sehr, wie er ihn herbeisehnte.
Denn irgendwo dort draußen in der Nacht war der Meuchler, der mit dem Bogen auf ihn geschossen hatte. Irgendwo dort draußen waren der Mörder von Jan Spaen und Pfingstrose. Sano war von Feinden umgeben.
Er zog sich frische warme Kleidung an und schnallte sich die Schwerter an die Hüfte. Sano mied den Futon, legte sich stattdessen auf den Fußboden und stützte den Nacken auf ein Kopfbrett aus Holz. Stets bereit, auf eine Bedrohung zu reagieren, hielt Sano die rechte Hand am Schwertgriff und ließ sich an der Grenze zwischen Wachen und Schlaf dahintreiben. Doch bald darauf übermannte ihn die Müdigkeit, und er versank in den dunklen Tiefen des Vergessens.
Er ging durch einen grenzenlosen Wald aus blühenden Kirschbäumen, die einen seltsam stechenden Geruch verströmten und knisternde Geräusche von sich gaben. Irgendwo ertönte wieder und wieder eine Tempelglocke; ihr Klang war laut und misstönend. In der Ferne stand eine Frau, die ihm aufgeregt, in wilder Hast zuwinkte; ihr pastellener Kimono flatterte in einem heißen, trockenen Wind. Sano erkannte Aoi, und das Herz strömte ihm vor Freude über. Er rief ihren Namen, doch die Tempelglocke übertönte seine Stimme. Sano rannte zu ihr.
Als er näher kam, sah er das Entsetzen auf Aois Gesicht und erkannte, dass sie ihn nicht zu sich winkte, sondern ihm zu verstehen gab, sich von ihr fern zu halten. Er konnte ihre Stimme nicht hören, vermochte die Worte, die sie ihm zurief, aber von ihren Lippen abzulesen. Nein! Gefahr! Du musst fliehen! Doch Sano beachtete die Warnung nicht. Als er Aoi erreichte, schloss er sie in die Arme …
… und in dem Augenblick, als er sie berührte, ging sie in Flammen auf. Ihr Körper, ihr Haar, ihre Kleidung verwandelten sich in eine glutheiße, erstickende Erscheinung aus Licht und Rauch. Sano schrie auf und schreckte aus dem Schlaf. Er lag in seiner Schlafkammer auf dem Fußboden, doch den stechenden Geruch gab es tatsächlich – und auch das knisternde Geräusch, das immer lauter wurde. Auch der erstickende Rauch war kein Trugbild, und die Tempelglocke erwies sich als Feueralarm. Dichter Qualm und gespenstisches flackerndes orangenes Licht erfüllten das Zimmer. Sanos Körper wurde von Hustenkrämpfen geschüttelt; der Rauch biss ihm in Nase, Hals und Augen. Das war kein Traum. Das Haus brannte … und Aois Geist hatte ihn gewarnt.
Sano kam taumelnd auf die Beine und ging mit schwankenden Schritten durchs Zimmer, hustend und keuchend. Schmerzhaft stieß er sich an Möbeln und Wänden, bevor seine ausgestreckten Hände die Tür fanden und aufschoben. Ein Hitzewoge schlug ihm entgegen, als er zu spät erkannte, dass die Tür nicht auf den Flur und hinaus in den Garten, sondern weiter ins Innere der Villa führte. Im angrenzenden Zimmer leckten die Flammen bereits an den Wänden empor, verbrannten papierene Trennwände und trieben schwarze Wolken ätzenden Rauchs in den Schlafraum, der in Sanos Lungen brannte. Er presste sich den Ärmel auf Nase und Mund und rannte in die Gegenrichtung. Die Fußmatten, Wandgemälde und papierenen Fenster in der Schlafkammer brannten inzwischen lichterloh.
Plötzlich kippte eine der Außenwände krachend nach innen ins Zimmer, dass die Funken stoben. Sano sah, dass auch draußen auf dem Flur die Flammen um sich gegriffen hatten. Die Gluthitze brannte ihm auf der Haut, und die schwelende Tatami-Matte versengte die Sohlen seiner Schuhe. Ein Hemdsärmel fing Feuer, und der ätzende Rauch blendete ihn. Dann, plötzlich, brach er durch eine halb verkohlte Wand und hinaus an die frische, herrliche kühle Nachtluft. Er taumelte über die Veranda, stürzte in den Garten und rollte sich über den Rasen, um die Flammen zu ersticken, die an seiner Kleidung leckten.
»Feuer!«, rief er. Seine Stimme war heiser vom Rauch. Ein schrecklicher Hustenanfall raubte ihm den Atem und ließ heftige Übelkeit in ihm aufsteigen. Sano setzte sich auf, übergab sich würgend. Das Dach der Villa stand in Flammen. Wie leuchtend orangene Vögel stiegen Funken empor, während Segel aus schwarzem Rauch am Nachthimmel wogten. »Hilfe!«, krächzte Sano. »Feuer!«
Auf der anderen Seite der Gartenmauer ertönte die Feuerglocke; Rufe und das Geräusch rennender Schritte waren zu vernehmen. Dann traf die Feuerwehr von Nagasaki ein: in Umhänge aus Leder gekleidete Männer, die Helme mit Visieren trugen, brachen sich mit schweren Hämmern und Äxten einen Weg durch das
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