Die Spur des Verraeters
unbeeindruckt, hielt seine Lampe in die Höhe und musterte Sano. »Ihr blutet, falls Ihr es noch nicht wisst.«
Erschreckt stellte Sano fest, dass die Schulterwunde den Verband und den Kragen seines weißen Unterkimonos rot gefärbt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ein beunruhigendes Hitze- und Druckgefühl in der Schulter spürte. Um einer Entzündung der Wunde vorzubeugen, musste er sofort behandelt werden. Die Schmuggler konnte er später immer noch fassen, wenn sie sich mit ihren Verbindungsleuten vom Schwarzmarkt trafen, um ihnen die Waren zu verkaufen. Was die Verdächtigen betraf, die ihn zum Treffpunkt führen konnten, hatte er eine ganze Reihe zur Auswahl: Statthalter Nagai, Dolmetscher Iishino, Kaufmann Urabe, Abt Liu Yun und Kommandant Ohira.
Doch als Sano den Nachhauseweg fortsetzte, sah er weitere Erschwernisse für die Weiterführung seiner Ermittlungen: Soldaten hielten ihn unter Beobachtung, indem sie ihm ganz offen folgten. Doch Sano konnte auch die Blicke von Spitzeln spüren, die im Dunkeln verborgen waren. Als er schließlich die Villa erreichte, sah er einen großen Trupp Soldaten, die vor dem Tor lungerten: Die Jagd nach Hirata war immer noch im Gange.
»Hast du irgendetwas über meinen Gefolgsmann gehört?«, fragte er Alter Karpfen, als dieser ihm auf dem Flur entgegenkam.
»Leider nichts Gutes, Herr«, murmelte der Diener. »Die Soldaten hätten ihn um ein Haar auf dem Anwesen des Schatzmeisters dieser Stadt erwischt. Er hat auf der Flucht einen Mann ermordet. Die Soldaten haben Befehl, ihn zu töten, sobald sie ihn zu Gesicht bekommen.«
Der Schreck traf Sano wie ein Donnerschlag. »Was, bei allen Göttern, wollte Hirata auf dem Anwesen des Schatzmeisters von Nagasaki?«
»Die Polizei sagt, dass er ins Haus eingebrochen ist, weil er Geld stehlen wollte, um aus der Stadt fliehen zu können.«
»Das ist eine Lüge!« Sano wusste es besser. Hirata wollte nicht aus Nagasaki fliehen, sondern Nachforschungen über jene Männer anstellen, die ihn, Sano, anklagten. Seine Nachforschungen hatten Hirata offenbar auch in das Wohnviertel der hohen Beamten geführt, wo er seinen Gegner gewiss in Notwehr getötet hatte; da war Sano sicher. Doch ihm wurde beinahe übel bei dem Gedanken, dass die falschen Beschuldigungen gegen ihn und Hirata kein Ende nahmen und immer schwer wiegender wurden.
Sano wollte dem Diener gerade etwas erwidern, als er sah, dass die Lippen von Alter Karpfen geschwollen waren. »Was ist passiert?«, fragte er.
Alter Karpfen versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. »Statthalter Nagai hat herausgefunden, wie ich gestern Abend die Spitzel an der Nase herumgeführt habe, indem ich mich als Euch ausgab. Heute hat er jemanden hergeschickt, mir eine Lektion erteilen zu lassen. Aber es war halb so schlimm. Alter Karpfen ist hart im Nehmen. Und es war die Sache wert, wo wir denen gestern Abend einen so schönen Streich gespielt haben, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte Sano, wütend darüber, dass der Diener seinetwegen hatte leiden müssen. Er durfte Alter Karpfen nie wieder um einen solchen Gefallen bitten – was es jedoch um so schwerer für ihn machte, seinen Beobachtern zu entkommen.
Die aus Verzweiflung geborene Energie, die ihn während des vergangenen Tages erfüllt hatte, war plötzlich aufgebraucht. Sano fühlte sich schwach vor Hunger und Müdigkeit, Schmerz und Blutverlust. Jetzt, da seine Feinde wussten, dass er sich durch die drohende Todesstrafe nicht davon abhalten ließ, seine Ermittlungen weiterzuführen, versuchten sie es auf andere Weise: Sie schalteten seine Helfer aus und raubten ihm die Macht, sich von den Anklagen reinzuwaschen und den wahren Tätern ihre Verbrechen nachzuweisen. Sano stand nun ganz allein da, war praktisch hilflos. Doch wenngleich die Wolken schwarzer Verzweiflung ihre Schatten auf ihn warfen, dachte er nicht an Aufgabe. Sein detektivischer Verstand arbeitete weiter, und ein neuer Plan nahm vage Gestalt an. Doch erst einmal musste er ruhen und frische Kräfte sammeln.
»Du musst meine Wunde gegen Fieber behandeln und mir einen frischen Verband anlegen«, sagte er zu Alter Karpfen. »Die Hausmädchen sollen mir eine Mahlzeit bringen. Dann lass mir ein heißes Bad ein und bereite mein Bett.«
Bald darauf hatte Sano gegessen, gebadet und trug einen frischen Verband um die Schulter. Er zog sich in seine Schlafkammer zurück. Der Futon, auf dem weiche Decken lagen, war eine unwiderstehliche Einladung zu ruhen. Doch Sano
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