Die Spur des Verraeters
Fenster. Am Fuß des Hügels zogen Soldaten durch die Straßen, noch immer auf der Suche nach dem verschwundenen Barbaren. »Falls Ihr Deshima inspiziert, würden die derzeitigen Verhältnisse den Bericht verfälschen, den Ihr nach Edo schickt – an Kammerherrn Yanagisawa.«
Sano wusste, dass er sich kein Nachgeben leisten konnte. Sein Status als Inspektor aus Edo war dermaßen unbestimmt, dass eine Niederlage im Machtkampf mit Nagai Sano zum Untergebenen des Statthalters degradieren würde, wenngleich sie rangmäßig auf einer Stufe standen.
»Ich werde Euch helfen, wieder für normale Verhältnisse zu sorgen, sodass ich die Inspektion der holländischen Faktorei auf Deshima vornehmen kann«, sagte Sano.
Ein hoffnungsvoller Ausdruck erschien in Nagais Augen. »Soll das ein Angebot sein, dass Ihr bei der Suche nach Direktor Spaen die Verantwortung übernehmen wollt?« Sein ruhiger Tonfall konnte seine Erregung nicht verbergen. »Nun, ja, gut, das ist sehr freundlich von Euch, aber Ihr braucht Euch keine Umstände zu machen. Wenn Ihr allerdings darauf besteht …«
Sano erkannte die Falle: Wenn er die Verantwortung für die Nachforschungen übernahm, würde er Statthalter Nagai von einer gewaltigen Last befreien – und Kammerherrn Yanagisawa geradewegs in die Hände spielen. Denn sollte es nicht gelingen, den holländischen Barbaren aufzuspüren, bedeutete es für den Verantwortlichen den Tod. Andererseits lagen sechs triste Monate vor Sano, wenn er diese Herausforderung nicht annahm. Er würde sich in Nagasaki zu Tode langweilen; er würde nichts bewegen, nichts erreichen können – nur Zeit verschwenden. Sein Groll gegenüber dem bakufu würde weiter zunehmen. Die schmerzhaften Gedanken an Aoi würden wiederkehren. Er müsste sich Sorgen um seine Zukunft machen …
»Ich bestehe darauf«, sagte Sano.
Bei Statthalter Nagai löste sich die Anspannung mit einem vernehmlichen Seufzer, während Sano von einem Hochgefühl erfüllt wurde. Nun würde er sinnvolle Arbeit in dieser Stadt leisten; er würde nach einer Wahrheit suchen, nach Gerechtigkeit streben und dem Bushido, dem Weg des Kriegers, auf eine Weise folgen, wie sie ihm als einzig richtige erschien. Und er würde die geheimnisvollen Barbaren kennen lernen. Außerdem würde ein Erfolg nicht nur sein Ansehen steigern – er würde ihm überdies persönliche Genugtuung verschaffen: Statthalter Nagai war ihm nun einen Gefallen schuldig und erklärte sich möglicherweise bereit, die Befehle Kammerherrn Yanagisawas zu missachten. Sano warf einen Blick auf Hirata, auf dessen Miene sich Fassungslosigkeit spiegelte: Er konnte nicht begreifen, weshalb Sano sich freiwillig in eine solche Gefahr begab.
»Bei dieser Nachforschung brauche ich deine Hilfe nicht, Hirata- san «, sagte Sano. Um seinen Gefolgsmann vor den Konsequenzen eines möglichen Fehlschlags zu bewahren, musste er Hirata aus dieser gefährlichen Sache heraushalten. Wenn Sanos Vorhaben den eigenen Untergang bedeutete, wollte er ihn in Kauf nehmen; doch wenn sein Freund und Gefolgsmann Hirata darunter leiden musste, würde Sano den Schmerz nicht ertragen können. »Wenn wir uns nachher vom Statthalter verabschiedet haben, sorgst du dafür, dass unser Gepäck in die Unterkünfte gebracht wird. Anschließend kannst du in die Stadt gehen und dich amüsieren.«
»Mich amüsieren«, wiederholte Hirata tonlos, wobei es ihm nicht gelang, seine Furcht um Sano und seine Enttäuschung darüber zu verbergen, bei der Jagd nach dem Holländer nicht dabei sein zu dürfen.
Sano wandte sich wieder an den Statthalter. »Ich wäre Euch sehr dankbar, würdet Ihr mir nähere Einzelheiten über das Verschwinden des holländischen Barbaren berichten, Statthalter Nagai. Wann wurde es bemerkt, und von wem?«
Der Statthalter schenkte seinen Gästen Tee nach und bot ihnen weiteres Gebäck an. »Gleich nach Tagesanbruch«, erwiderte er dann und war nun sichtlich darauf bedacht, seine Bereitschaft zur Hilfe zu bekunden. »Bei einem normalen Streifengang, den Ohira, unser Kommandant auf Deshima, und seine Leute unternommen haben.«
»Wie viele andere Holländer befinden sich auf Deshima? Hat jemand sie gefragt, wohin Direktor Spaen verschwunden sein könnte, und weshalb?« Als Sanos Zunge unbeholfen den seltsamen holländischen Namen formte, schlug sein Herz schneller. Bald würde er diesen geheimnisvollen Menschen vom anderen Ende der Welt zum ersten Mal begegnen.
»Zur Zeit halten sich sechs Barbaren in Japan auf, Jan
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