Die Spur des Verraeters
dass sein Erscheinungsbild die Richter ebenso sehr gegen ihn einnehmen würde wie die Lügen, die über ihn erzählt wurden. Das Schlimmste aber war, dass die Gefangenenwärter die Akten Ohiras beschlagnahmt hatten, die Sano auf Deshima entdeckt und eingesteckt hatte, sodass er kein Beweismittel zu seiner Verteidigung mehr besaß.
»Weitere Beschuldigungen gegen den Angeklagten wurden gestern vom ehrenwerten Statthalter Nagai vorgebracht«, sagte der oberste Richter Takeda. »Unerlaubtes Betreten der Insel Deshima, tätlicher Angriff gegen die Wachmannschaft und Bestechung der Besatzung des holländischen Segelschiffes.« Takeda wies auf die Schriftrollen, die vor ihm auf dem Schreibpult lagen. »Wir, die Richter, haben uns die Aussagen der Zeugen noch einmal angeschaut und sie für ausreichend begründet und stichhaltig befunden. – Hiermit erklären wir Sano Ichirō sämtlicher genannter Verbrechen für schuldig.«
Schockiert und fassungslos starrte Sano den obersten Richter an. Natürlich wusste er, dass seine Aussichten auf ein gerechtes Urteil gering waren, doch mit einer so oberflächlichen Verhandlung hatte er nicht im Traum gerechnet. »Müssen die Zeugen nicht vor diesem Gericht aussagen? Ist es mir nicht einmal erlaubt, meine eigene Verteidigung zu übernehmen?« Selbst der gemeinste Bürger hatte für gewöhnlich das Recht, vor der Urteilsverkündung seine Meinung zu äußern und erhielt die Gelegenheit, seinen Anklägern vor Gericht gegenüberzutreten. »Das kann nicht Euer Ernst sein!«
»Niemand hat Euch die Erlaubnis erteilt, etwas zu sagen«, entgegnete Richter Segawa, ein runzeliger kleiner Mann mit verkniffenem Mund, und wandte sich an den obersten Richter Takeda. »Lasst uns jetzt das Urteil bestätigen und diese abscheuliche Sache so rasch abschließen, wie der ehrenwerte Kammerherr Yanagisawa es gewünscht hätte.«
Richter Dazai – ein fetter, gelangweilt wirkender Mann – nickte. Sano gab alle Hoffnung auf, in diesen beiden Männern Verbündete zu finden. Offenbar waren sie Lakaien Yanagisawas und versuchten, die Anerkennung des Kammerherrn zu gewinnen, indem sie Sano vernichteten. Sano aber wollte sich nicht kampflos geschlagen geben.
»Die Anklagen gegen mich sind unbegründet«, rief er hitzig. »Die so genannten Zeugen wollen mir etwas anhängen, um sich selbst zu schützen.« Die Richter starrten Sano finster und in stummer Missbilligung an. Die Beamten, Schreiber und Wachen verfolgten das Geschehen mit verdutzten Mienen.
»Ich verlange, dass ich die Gelegenheit bekomme, meine Unschuld zu beweisen!«
Als Sanos Stimme verklungen war, schien die Stille sich eine Ewigkeit zu dehnen. Schließlich sagte Richter Segawa: »Dieser Gefühlsausbruch war unerhört! Ich bitte Euch, Takeda-san, dieser Sache ein Ende zu machen.«
Doch die Aufmerksamkeit des obersten Richters zielte nun auf Sano; interessiert betrachtete er ihn aus schmalen Augen. »In Anbetracht der Schwere der Anklagen erlaube ich dem Beschuldigten, zu seiner Verteidigung zu sprechen«, sagte er dann.
Vielleicht war Takeda bloß neugierig darauf, was der Angeklagte vorzubringen hatte. Doch Sano erkannte in dem obersten Richter einen Menschen, der alles, was der bakufu tat, für rechtens und richtig hielt und der sich als Teil der Tokugawa-Regierung verstand, sodass er jedes Vergehen gegen den Staat als persönliche Beleidigung auffasste und entsprechend hart bestrafte, wobei es ihm lieber war, dass in Zweifelsfällen eher ein Unschuldiger verurteilt wurde, als dass ein Schuldiger ungestraft davonkam. Deshalb hatte der oberste Richter den Zeugenaussagen blind geglaubt und war von Sanos Schuld ausgegangen. Doch wenn Sano den Richter durchschaut hatte, würde Takeda sich nicht damit zufrieden geben, nur einen einzigen Mann zu bestrafen, wenn sich die Möglichkeit bot, dass mehrere Verbrecher gefasst und zur Rechenschaft gezogen wurden. Nur deshalb gab Takeda dem Angeklagten die Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Und Sano hielt die wortgewandteste, eindringlichste Rede seines Lebens. Er erklärte und rechtfertigte seine falsch dargestellten Taten und wies auf seine Dienstakte hin, die er als Beweis für seine Treue und Aufrichtigkeit seinen Herrn gegenüber bezeichnete. Er erklärte den Richtern, welche Motive die möglichen Täter – Vizedirektor deGraeff, Dr. Huygens, Abt Liu Yun und Kaufmann Urabe – für den Mord an Jan Spaen gehabt hatten. Er berichtete, wie er den Schmugglerring entdeckt hatte und von seinem Verdacht
Weitere Kostenlose Bücher