Die Spur des Verraeters
die Samurai der Jetztzeit den Eigennutz über die Selbstaufopferung, wie der Weg des Kriegers sie verlangte. Während der Bürgerkriege, die fast ein Jahrhundert zuvor geendet hatten, waren Samurai in den Schlachten ihrer Herrn freudig in den Tod gegangen. Heutzutage gab es nur wenige Gelegenheiten, sich Ruhm zu erwerben – und noch weniger Menschen, die solche Gelegenheiten suchten. Viele Samurai beklagten, dass der Bushido seine Reinheit verloren hatte, und der oberste Richter Takeda gehörte offensichtlich dazu.
»Eine solche Treue muss belohnt werden«, sagte Takeda. Nachdem er die Soldaten aus dem Saal befohlen hatte, wandte er sich an Hirata. »Ihr dürft sprechen.«
Und Hirata erzählte leidenschaftlich die Geschichte, wie er sich als Polizist ausgegeben, Ermittlungen angestellt und in Notwehr getötet hatte. »Urabe besitzt Verbindungen zu Verbrechern. Es gibt keinen vertrauenswürdigen Menschen, der seine Alibis für die Morde an Jan Spaen und Pfingstrose oder für die nächtliche Schmuggelei bestätigen könnte. Und Dolmetscher Iishino gibt mehr Geld für Geschenke an seine Vorgesetzten aus, als er verdient. Wie könnte er sich das leisten, wenn er nicht an Verbrechen beteiligt ist?«
Während Sano sich fragte, wie Hirata es geschafft hatte, diese Informationen zu erlangen, beobachtete er, wie die Richter die Neuigkeiten aufnahmen. Takedas Aufmerksamkeit blieb voll und ganz auf Hirata gerichtet, während die beiden anderen Richter keinen Hehl daraus machten, dass sie diese Schwäche ihres Vorgesetzten missbilligten. Und es war eine Schwäche, wie Sano aus eigener Erfahrung wusste. Der Bushido, die Quelle der Kraft eines jeden Samurai, stellte zugleich seine größte Verletzlichkeit dar. Kammerherr Yanagisawa hatte Sanos Ehrgefühl missbraucht, um es gegen ihn selbst zu richten und immer wieder Komplotte zu schmieden, die Sano nicht vereiteln konnte, ohne gegen den strengen Gehorsams- und Verhaltenskodex des Bushido zu verstoßen. Der oberste Richter Takeda mochte streng und ungerecht sein, doch Hiratas vorbildliche Treue bewegten ihn, mit seinen Gewohnheiten zu brechen und seinen Geist zu öffnen. Sanos Hoffnung wuchs, als Hirata fortfuhr.
»Ich habe mich als Wanderarbeiter verkleidet und eine Stelle im Goldenen Halbmond bekommen. Von den Dienern im Freudenhaus erfuhr ich, dass Dolmetscher Iishino, yoriki Ota und Statthalter Nagai dort an einer Feier teilgenommen haben – an dem Abend, als Pfingstrose ermordet wurde. Außerdem habe ich mit dem Besitzer eines Teehauses gesprochen, der mir sagte, dass Abt Liu Yun sich regelmäßig ins Vergnügungsviertel schleicht, als japanischer Kaufmann verkleidet. Auch er war in der Mordnacht dort.«
»Bevor Ihr meinen Herrn verurteilt, ehrenwerter Richter, möchte ich Euch bitten, eigene Nachforschungen über diese Männer anzustellen. Denn unter ihnen werdet Ihr die wahren Verräter finden.«
Hirata verbeugte sich. Der oberste Richter Takeda schien in Gedanken versunken. Sano wartete in atemloser Spannung, während in der Ferne die lauten Kriegstrommeln im Rhythmus seines Herzens dröhnten.
Schließlich befahl Takeda den Wachen: »Bringt sôsakan Sano hierher.«
Die Wachen zerrten Sano vor das Podium. Die straff sitzenden Verschlüsse der Ketten hatten seine Hände und Füße taub werden lassen, doch als er neben Hirata kniete, waren aller Schmerz, alles körperliche Unbehagen vergessen. Der oberste Richter beobachtete die beiden Männer aufmerksam. Ein stählernes Band der Angst legte sich um Sanos Brustkorb und machte ihm das Atmen schwer; auch Hiratas Furcht konnte er spüren. Nur dank der eisernen Selbstbeherrschung, die er seiner Ausbildung zum Samurai verdankte, wahrte Sano die Fassade äußerer Ruhe, als er nun auf die Entscheidung des obersten Richters Takeda wartete.
» Sôsakan Sano, die Aussagen Eures Gefolgsmannes stützen Eure Behauptungen, und seine Treue zu Euch spricht für seinen Charakter ebenso wie für den Euren. Deshalb gewähre ich Euch die Möglichkeit, Eure Unschuld zu beweisen.«
Als er Takedas Entscheidung hörte, ihm und Hirata Strafaufschub zu gewähren, stieß Sano heftig den Atem aus, während eine Flutwelle verschiedenster Empfindungen über ihn hinwegspülte. Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte seine wilde Freude und Erleichterung hinausgeschrien und vor Dankbarkeit geweint. Doch seine Ehre und das Protokoll verlangten, dass er sich würdevoll verhielt.
»Ich danke Euch, ehrenwerter Richter«, sagte er fest.
Dann
Weitere Kostenlose Bücher