Die Spur des Verraeters
wandte er sich Hirata zu. Ein stummer Blick überbrückte die Kluft zwischen ihnen und festigte ihre persönliche Bindung. Endlich erkannte Sano, wie sehr er Hirata brauchte und dass er einem anderen Samurai nicht das Recht verweigern konnte – und durfte –, seinem Herrn und damit der Ehre zu dienen. Hiratas Hinweise hatten den Verdacht gegen jene Männer erhärtet, von denen sie beide beschuldigt wurden. Doch letztendlich war es Hiratas Treue gewesen, die den obersten Richter zum Umdenken bewogen hatte. Natürlich konnte Sano zukünftigen Schmerz über Trennung, Krankheit und Tod vermeiden, indem er eine tiefere Freundschaft mit Hirata zurückwies, doch diese Entscheidung würde ihn zu ständiger Einsamkeit verdammen, und er würde Schlachten verlieren, die er allein nicht gewinnen konnte. Deshalb akzeptierte Sano seinen Gefolgsmann endlich als einen engen Freund, sei es im Sieg oder in der Niederlage, im Triumph oder in der Katastrophe, in Ehre oder in Schande. Dies war der Weg des Kriegers: vollkommen und ewig.
In Hiratas Augen schimmerten Tränen und spiegelten sein Begreifen und seine Freude. Sein Gesicht schien in einem inneren Licht zu leuchten, als hätten der Ausgang der Gerichtsverhandlung und die Achtung, die der oberste Richter Takeda ihm seiner Treue wegen bekundet hatte, auf irgendeine Weise seine Selbstachtung neu geboren und ihm lang ersehnten inneren Frieden gebracht. Feierlich verneigten sich Sano und Hirata in gegenseitigem Respekt voreinander.
»Das ist Gesetzesmissbrauch!«, protestierte Richter Segawa.
»Den Kammerherr Yanagisawa missbilligen wird«, fügte Richter Dazai hinzu.
Als die zwei beisitzenden Richter sich vehement für das anfänglich ergangene Urteil einsetzten, erkannte Sano mit plötzlicher Ernüchterung, dass er und Hirata noch längst nicht gerettet waren.
»Vergesst nicht, ehrenwerte Kollegen, dass ich bei diesem Tribunal den Vorsitz führe«, sagte der oberste Richter Takeda. »Eure Einsprüche werden zur Kenntnis genommen, wie das Gesetz es vorschreibt – und abgewiesen.«
Doch Sano wusste, dass Takeda seinen Rang nicht dadurch erlangt hatte, indem er sich leichtgläubig zeigte oder die politischen Gegebenheiten des Lebens im bakufu ignorierte. Und seine nächsten Worte bewiesen es: » Sôsakan Sano, ich werde persönlich Eure Gespräche und jeden Kontakt mit dem Informanten Ohira überwachen und Euch zu den geheimen Treffen der Schmuggler begleiten. Sollte es Euch gelingen, die Verbrecher zu überführen, werden die Klagen gegen Euch fallen gelassen.«
»Solltet Ihr jedoch versagen, wird das Urteil gegen Euch und Euren Gefolgsmann vollstreckt. Und es wird nicht nur auf euer beider Familien erweitert, sondern auch auf eure engsten Verbündeten. Denkt immer daran, sôsakan Sano, und betet zu den Göttern, dass unser Plan aufgeht.«
33.
M
itternacht. Von einer hohen Klippe am Stadtrand blickte Sano auf Nagasaki hinunter. Die Dunkelheit lag über der Stadt wie eine Decke über einem ruhelosen Schläfer. Der Mond – eine durchscheinende weiße Kugel, die in einem Netz aus Wolken gefangen war –, warf ihr Licht auf japanische Kriegsschiffe, Schaluppen und den holländischen Segler, der immer noch im Hafen lag. Die Soldaten setzten ihre Patrouillengänge fort; die flackernden Flammen ihrer Fackeln bewegten sich am Ufer entlang und durch die Straßen und Gassen der Stadt. Auf den höchsten Punkten mehrerer Klippen brannten Lagerfeuer in Befestigungsanlagen. Der anhaltende Klang der Kriegstrommeln wurde immer bedrohlicher. Eine unsichtbare, aber greifbare Bedrohung vibrierte in der warmen Nacht und verstärkte Sanos Unbehagen, als er sich von dem Panorama abwandte und seine Gefährten anschaute.
In der Deckung eines kleinen Kiefernwäldchens kauerte Hirata – regungslos, aber sprungbereit, sollte irgendein Geräusch sich nähern. Der oberste Richter Takeda saß auf einem Felsblock, die Arme vor der Brust verschränkt; sein Gesicht lag im Schatten seines Hutes. Die Richter Segawa und Dazai kauerten nebeneinander und strahlten Ungeduld und Missbilligung aus.
»Jetzt warten wir mindestens schon zwei Stunden, und Euer Informant ist immer noch nicht erschienen«, beklagte sich Segawa. »Ihr könntet ebenso gut aufgeben, sôsakan Sano.«
»Er wird kommen«, erwiderte Sano mit mehr Überzeugung, als er verspürte. Unruhig schaute er zu den vier Gefolgsmännern des obersten Richters Takeda hinüber, die an den Rändern der kleinen Lichtung standen. Sie waren mitgekommen,
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