Die Staatsanwältin - Thriller
ein bisschen beschäftigt sind.«
Chris antwortete lange nicht. Ich kannte meinen Bruder, deshalb war mir klar, dass er den Mut sammelte, um mir etwas zu sagen. »Jamie, ich glaube, dieser Brief ist echt. Ich weiÃ, wie du darüber denkst, aber ich glaube wirklich, dass Antoine Marshall eine ehrliche Bekehrung erlebt hat und dass dieser Hirntest ihm geholfen hat, sich damit auseinanderzusetzen, was er getan hat. Ich sage nicht, dass er unschuldig ist, aber ich sage, er ist heute nicht mehr derselbe Mensch wie damals.«
Chris unterbrach sich und wartete auf eine Reaktion.
Ich dachte nach und wählte meine Worte mit Bedacht. »Ich habe die ganze Zeit mit Typen wie Antoine Marshall zu tun. Sie behaupten alle, sie hätten im Gefängnis zu Jesus gefunden. Dadurch bekommen sie Strafverkürzungen. Ich finde es höchst verdächtig, dass er nur eine Woche vor seiner Hinrichtung endlich gesteht, aber erst, nachdem er alles andere versucht hat, damit sein Fall neu aufgerollt wird.«
»Sein Anwalt hat heute angerufen.« Chris' Stimme blieb leise. Ich wusste, er wollte keinen Streit, und ich in Wahrheit auch nicht. »Er will wissen, ob ich offiziell darum bitten könnte, dass Marshalls Todesurteil in Lebenslänglich ohne Bewährung umgewandelt wird.« Er zögerte, wahrscheinlich erwartete er eine Explosion von mir. Als keine kam, lieà er seine eigene Bombe platzen.
»Ich denke ernsthaft darüber nach, Jamie. Ich war nie für die Todesstrafe, und ich glaube, ich könnte nicht damit leben, wenn ich in diesem Fall nicht um Gnade bitten würde. Ich komme immer wieder zur Bergpredigt zurück, wo Christus uns sagt, wir sollen anderen vergeben, wenn wir wollen, dass uns vergeben wird.«
»Wir müssen beide tun, was wir für das Richtige halten«, sagte ich. Ich wusste, Chris erwartete mehr Widerstand, aber ich war zu ausgelaugt und erschöpft für diese Unterhaltung. Dennoch fühlte ich mich von meinem älteren Bruder im Stich gelassen. Antoine Marshall hatte unsere Mutter umgebracht, und jetzt wollte mein Bruder eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben und darum bitten, dass das Leben dieses Mannes verschont wurde? Für mich fühlte es sich wie Verrat an.
»Gehst du trotzdem mit mir zur Hinrichtung?«, fragte ich.
»Ja. Und ich bete, dass du diesem Mann irgendwann vergeben kannst, auch wenn du glaubst, dass der Staat ihn hinrichten sollte.«
»Dann bete weiter. Denn im Moment kann ich daran nicht glauben.«
Mitten in meiner Sitzung mit Dr. Gillespie wurde mir alles klar. Zum ersten Mal erzählte ich ihm alles über das Dilemma, in dem ich steckte. Erwartungsgemäà hörte er geduldig zu und stellte verständnisvolle Fragen. Wenn er sprach, waren seine Worte wohlüberlegt und aufschlussreich. Er half mir, mein Dilemma in einem ganz neuen Licht zu sehen.
»Tief in deinem Inneren«, sagte er, »bist du der Gerechtigkeit verpflichtet. Mace James Beweise vorzuenthalten und Antoine Marshall sterben zu sehen, wäre wie eine Vergewaltigung seiner Seele.«
Ich sagte nichts.
»Auf der anderen Seite hast du das Bedürfnis, deinen Vater zu beschützen und das Bild dieser perfekten Familie zu bewahren, die Antoine Marshall auseinandergerissen hat.«
»Was soll ich also tun?«, fragte ich.
»Du solltest die guten Erinnerungen an deinen Dad festhalten und daran denken, dass er dich sehr geliebt hat. Nichts kann dir das nehmen. Aber du musst auch die Unzulänglichkeiten deines Vaters anerkennen.
Niemand ist perfekt, Jamie. Wir lernen aus den Fehlern unserer Eltern und schaffen eine bessere Welt für uns und unsere Kinder. Wir verschlimmern ihre Fehler nur, wenn wir versuchen, sie zu vertuschen.«
Ich verlieà Gillespies Büro tieftraurig beim Gedanken daran, was ich zu tun hatte. Ich würde meinem Boss von den Beweisen erzählen, die meinen Vater mit Richterin Snowden in Verbindung brachten. Er würde sich moralisch verpflichtet fühlen, diese Erkenntnisse an Mace James weiterzugeben. Im schlimmsten Fall würde Antoine Marshall das Gefängnis als freier Mann verlassen.
Und so betete ich. Nicht dafür, dass ich die Fähigkeit in mir fand, Antoine Marshall zu vergeben. Meine Gebete trugen eher den Geruch des Alten Testaments â dass Antoine Marshall auf die eine oder andere Art die Gerechtigkeit erfahren würde, die er zweifellos verdiente.
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