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Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Titel: Die Stachelbeerstraeucher von Saigon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Zimmerschied
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Obdachlosigkeit bedeutet, kann ich nur ahnen.
    Das Gefühl der Nichtsesshaftigkeit kenne ich nicht wirklich, aber es ist mir im Verlauf meines Lebens immer nähergekommen.
    Es ist der Zustand der Lebensunruhe, den kenne ich.
    Die Schwierigkeit, den Lebensmittelpunkt wahrhaftig zu definieren.
    Da bin ich nicht nur zwei-, da bin ich dreigespalten.
    Ich brauche den Weiler, die Kleinstadt und die Großstadt, und das am besten im Wechsel.
    Alle Größen.
    Ich brauche das mittelgroße stämmige Passau an den Feiertagen und zu Festspielzeiten.
    Denn nirgends inszeniert sich die Ehe zwischen verarmtem Adel und neureichem Bürgertum bizarrer und satireschwangerer als in einer Kleinstadt.
    Nirgendwo spürt man das Kleine so intensiv wie in einem viel zu großen Bühnenbild.
    Und nichts definiert Zugehörigkeit stärker als die Unentrinnbarkeit.
    Und ich brauche den Kobold Kneiding zum Schreiben, zum Konzentrieren des unterwegs Gedachten, zum Verlangsamen des Rhythmus nach langen Gastspieltouren.
    Kneiding, dieser Weiler im Sauwald, bestehend aus drei Häusern, einer Kapelle, einem Wirtshaus und einem venezianischen Sägewerk.
    Und ich brauche München im August.
    Die Ruhe des Riesen.
    Die Illusion, dass zwanzig Passaus etwas Großes ergeben.
    München im August.
    Weil es dann erträglich ist.
    Unerträglich war München als Straußfestung in den Achtzigern.
    Diese rotzige Behauptung.
    Als Provinzfürsten diese Stadt verwalteten, als sei sie Ackerland, das es zu bestellen gilt.
    Gedankengülle.
    Und als sich alle dagegen wehrten, die auch nur Kartoffeln anbauen wollten, aber kein Land dafür hatten.
    Heute sind sie Kartoffeln, aber jeder will Avocados.
    Und wenn dann eine Kartoffel versucht, Avocado zu sein, dann nennt man es in Bayern Unterhaltung.
    Dort, wo Unterhaltungschefs beim BR aus Nordrhein-Westfalen sind, hat die Kartoffel ihre Identität verloren.
    Auch noch in den Neunzigern war München schwer erträglich, als man sich plötzlich für den Mediennabel der Welt hielt, die heimliche Hauptstadt, der Szenefokus, in dem dann ein paar Landkreisbauernlackeln im hippen RTL -Outfit auch noch den Sommer ruinierten, das » Anything goes « probten und im » Nothing remains « landeten.
    Erst als dann zur Jahrtausendwende der ganze Hype nach Berlin umzog, sich die » arm, aber sexy Metropole « mangels eigener Schickeria auch noch die Paradiesvögel aus München nachfliegen ließ, weil sich Honeckers grau getönte Enkel nicht gerade als schillernde Hauptstadtchristbaumkugeln herausstellten,
    da bekam das große Dorf am Rande der Alpen zum ersten Mal nach langer Zeit wieder etwas Luft.
    Langsam.
    Jetzt, da der Ministerpräsident aus Ingolstadt, die Köche aus dem Allgäu, das Kabarett aus Franken und der Papst aus Niederbayern kommen, scheint München wie erlöst von der Bürde der Bedeutung.
    Und das am allermeisten im August.
    Dann bekommt diese Stadt eine Gelassenheit, die ihr zusteht.
    Weil dann alle da sind, die gerne hier bleiben, und alle weg sind, die den Unterschied zwischen Nockherberg und Ballermann, wenn überhaupt, nur mit Mühe beschreiben können.
    Dann bin ich am liebsten in München.
    Weil sich dann noch ein weiteres Lebensparadoxon erfüllt.
    In der Stille des Weilers ziehts einen an den Stammtisch.
    Und das Getöse der Großstadt erfüllt sich in der Stille.
    München und Stille.
    Welch ein Geschenk.
    Wenn Christian Ude einmal nichts erklärt.
    Wenn sich der » BISS « -Verkäufer sicher sein kann, dass er heute nicht von einer Masse hysterischer Krawattenkohorten überrannt wird.
    Wenn selbst die Staatssekretäre wieder Identität und Würde entwickeln, weil sie vergessen dürfen, was ihnen die Landtagspomeranzen aufgetragen haben.
    Wenn der FC Bayern seinen Junkies die Drogen entzieht und die U-Bahn-Schläger sich gegenseitig ins Koma prügeln, weil die Sonne ihnen die Feindbilder aus dem Spatzenhirn gebrannt hat.
    Wenn die Hitze über den Plätzen auch noch das letzte überflüssige Grinsen ausgedörrt hat, sich die bauchfreien Näbel müdegezwinkert haben und die Animationsnockerl in den Dekolletés in die Wirkungslosigkeit gewippt haben.
    Wenn alle Fehler der alten Beziehung in der neuen grundgelegt werden und endlich dann auch noch alle Lehrer in der Toskana sind oder sich in norwegischen Weiten an der Stechmücke neu erfahren.
    Wenn alle jungen wilden Dramatiker und alle » Schauspieler des Jahres « -Anwärter der nächsten Jahre von 18 bis 81 in Ambach und alle outgeburnten Medienmaniker auf dem

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