Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Titel: Die Stachelbeerstraeucher von Saigon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Zimmerschied
Vom Netzwerk:
Jakobsweg sind, dann durchweht manchmal eine sanfte, kühlende Brise die Stadt, dann höre ich München aufatmen.
    Dann mag ich München.
    Wenn die Hitze zum Verbündeten wird und Stille erzeugt.
    Dann starte ich meinen » Masochistensommer « im Fraunhofertheater.
    So nenne ich mein sich seit mittlerweile dreißig Jahren wiederholendes Augustgastspiel im Fraunhofertheater.
    Ein ewiger Selbstversuch.
    Weil der, der spielt, und die, die ihm zuhören, nicht ganz richtig im Kopf sind.
    So wie es sich für eine Großstadt gebührt.
    Der Raum fürs Verrückte.
    Wenn manchmal gar niemand kommt und plötzlich wieder alle.
    Wenn Schweiß und Spiel eins werden, zu einer Sinnessauna, zu einem Figurendampf und Silbenmonsun, der eine lange Nacht hindurch in der » Kulisse « , der kleinen Theaterwirtschaft, mit Freunden langsam wieder austrocknet.
    Und dann der kühle Morgen, wenn man es schafft, ein paar Augenblicke vor dem ersten Vogellaut, in die durch einen Gewitterguss gereinigte, nachtruhige, leere, wirkliche Kulisse zu treten.
    Dann atme ich München.
    Dann ist es einmalig.
    Dann erkenne ich es.
    Auch dass da etwas Originäres, Großes, Zeitloses ist.
    Und Heimat.
    Heimat ist da, wo man etwas vermisst.
    Und dann vermisse ich Karl Valentin, den Autorenfilm, die Zeit, als es noch Kulturreferenten gab und Kabarett noch einen Platz im Feuilleton hatte.
    Dann vermisse ich die Grenzgänger.
    Dann vermisse ich Jörg Hube.
    Nun hat das Jahr zwölf Monate, eine Stadt viele Gesichter und meine Erinnerung nur Platz für Augenblicke.
    Dennoch.
    München im August.
    Da ist eine Sauna.
    Und die tut gut.

Ratzenhirn
    Manchmal bin ich richtig sauer auf die Evolution.
    Weil sie in so großen Einheiten rechnet.
    Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen.
    Dadurch hat man innerhalb eines Lebens nie wirklich die Chance, eine Bewegung in ihr zu entdecken.
    Man ist verurteilt, in dem Gefühl der Stagnation zu leben, in den Wartehäuschen der Evolution zu sitzen neben verarmten Anthropologen und selbstmordwilligen Literaten, die bereit wären, sich vor den Bus zu schmeißen, so er doch endlich käme.
    Aber sie müssen weiter in den zur Sensation aufgeblasenen Unwichtigkeiten wie iPods und Facebook leben.
    Twittern wird als Kommunikation verkauft.
    Sie müssen weiter in windigen Emotionen wie » Song Contests « oder » Eisbärengeburten « frieren, die uns Entwicklung suggerieren sollen und doch nur Stehkarten in der Warteschleife sind.
    Aber irgendwo im Müll der Wartehäuschen raschelt es.
    Es huscht und verharrt und verschwindet.
    Dort grinst der Ratz.
    Dort in der quotenüberwucherten, artenarmen Hirnsteppe, zwischen den Zeilen, da grinst der Ratz.
    Dort, wo die Opfer den Opfern beschreiben, wie sie Opfer zu Opfern machen.
    Im Jammertal des Selbstmitleids.
    Dort ist er.
    Da grinst der Ratz.
    Sie zeigen sich nicht. Dafür sind sie zu klug. Sie sind nicht provozierbar.
    Rente mit 67. Sarrazin. Stuttgart 21.
    Das interessiert sie nicht.
    Im Gegensatz zu uns.
    Sie sind uns einfach überlegen.
    Es war ein großes Unglück, die Massenhysterie bei der Love Parade in Duisburg.
    Der Platz war zu klein, die Röhre zu eng.
    Daran scheitert der Mensch.
    Für eine Kanalratte wäre das alles kein Problem gewesen.
    Die hätte einfach gewartet.
    Zugegeben, es ist wenig darüber bekannt, ob und wie zwei Ecstasytabletten und sechs Stunden Technomusik das Sozialverhalten des Ratzen beeinflussen.
    Vielleicht neigt er dann ebenfalls mehr zur Asozialität.
    Aber die haben ein perfektes System.
    Bei Rattengift zum Beispiel, da wird einer zum Verkosten vorgeschickt, und wenn der umfällt, haben alle anderen was gelernt.
    Ein perfektes System.
    Man stelle sich vor, wir schicken unseren Verteidigungsminister im offenen Cabrio durch Kundus, und nur wenn der hinten lebendig wieder rauskommt, rücken alle anderen nach.
    Der Krieg wäre schnell vorbei.
    Der Kanalratz ändert im Gegensatz zum Menschen einfach sein Verhalten.
    Was der Ratz allerdings nie tun würde:
    sich bei der Stadtverwaltung beschweren, dass der Kanal zu eng sei.
    Sie sind uns einfach überlegen.
    Ich hab mir nie vorstellen können, dass ich einmal in einer Gesellschaft lebe, in der ein Tintenfisch größere prognostische Fähigkeiten hat als ein Finanzminister.
    Einschränkend mag man sagen, dass, wenn jetzt dieser Tintenfisch Paul, der bei der WM in Deutschland alle Ergebnisse richtig vorausgesagt hat, gegen alle demokratischen Gepflogenheiten Finanzminister geworden wäre, er könnte im klassischen

Weitere Kostenlose Bücher