Die Stadt am Ende der Zeit
Vergangenheit, wie künstlich konstruiert diese Verbindung, besonders in ihrem Fall, auch sein mochte.
Meine elterlichen Vorfahren, auf ihre Weise genauso irrational wie Ishanaxade (und alle Instandsetzer), behaupteten, vom Geschlecht Avia abzustammen – eine Erblinie, die bis zu den Zeiten der Leuchtenden Pracht zurückreicht und Verbindungen impliziert, die heute keiner mehr nachvollziehen kann. Doch die wenigen Fäden, die sie mit dieser Vergangenheit verknüpften, hielten sie hoch.
Mitten in unserer Hochzeitszeremonie bestanden meine Elternteile darauf, die traditionelle Entschädigung dafür einzukassieren, dass das Geschlecht Simia (der Legende nach) unser Geschlecht einst aufgezehrt, sich einverleibt, uns absorbiert hatte. Es war wirklich abartig, dass Ishanaxade sich an diesem Mythos weidete. Begeistert zahlte sie die Entschädigung, und ich erfuhr auch bald, warum; denn sie
spielte diese Überlegenheit in unserer Hochzeitskammer aus.
Das löste unseren ersten Streit als einander frisch angetraute Lebensgefährten aus, eine schwachsinnige Auseinandersetzung über die angebliche historische Fress- und Schlachtorgie und unsere jeweilige Abstammung. Mitten in diesen archaischen, rituellen Manövern, die vom Wesentlichen nur ablenken sollten, gab ich nach und ließ es schweigend über mich ergehen, dass sie an meinem »Schlägel« und meiner »Schwinge« herumknabberte und danach mit meinem »Schenkel« weitermachte. Ich musste all meine natürlichen Reflexe unterdrücken, um Würde zu bewahren.
Während sie zu mir hochblickte, die Lippen rot vor Blut, und mein Gewebe sich recht schnell regenerierte, erklärte sie, wir hätten in unserer Beziehung das ideale Gleichgewicht: Sie würde stets diejenige sein, die sich mich einverleibte, und ich stets derjenige, der bereit war, sich einverleiben zu lassen. Und sobald ich es überstanden hätte, würde ich stets eine Entschädigung dafür einstreichen. Ich nehme an, sie meinte es im Scherz. Trotzdem empfand ich es schnell als abgeschmackt.
Tiadba fuhr die letzten Wörter mit dem Finger nach, weil sie nicht genau wusste, was von all dem zu halten war. Bei Dingen, die sie nicht verstand, überkam sie jedes Mal ein ungutes Gefühl. »Hat sie ihn tatsächlich verspeist ?«, flüsterte sie entsetzt. Sie war sich nicht sicher, ob sie wollte, dass Jebrassy diese Passagen las, und spielte mit dem Gedanken, die Seite herauszureißen, zerrte sogar leicht daran, doch das Blatt gab nicht nach.
Dennoch sprach irgendetwas in diesem Text sie an. Die wohlüberlegte Anordnung nicht vertrauter Wörter sank tief in ihr Inneres hinab und holte zugleich Erinnerungen herauf, die ihrer Meinung nach nicht aus ihrem persönlichen Erleben stammen konnten. Schon fast schlafend, sah sie, ehe sie weiterblätterte, zu Jebrassy hinüber, der so friedlich neben ihr lag, und dachte – über den zeitlichen Abgrund und all diese unbegreiflichen Wörter hinweg – über Beziehungen, Paare und Liebende nach.
41
Der Astyanax empfing Ghentun vor einem transparenten Gestell voll funkelnder noetischer Gerätschaften, mit denen er akribisch genau ein Simulacrum gestaltete, ohne die Werkzeuge überhaupt zu berühren. Dieses Scheinbild hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Geschöpf der alten Art, war allerdings größer, stämmiger, weniger anmutig und hatte nicht so viel Fell.
Ringsum veränderte sich die Kammer ständig, ganz nach Lust und Laune des Großen Eidolon. Mehrmals musste Ghentun ausweichen, um nicht zu verbrennen, zu erfrieren oder einfach zermalmt zu werden. Aus Respekt hatte er seinen Umhang auf Minimalfunktion gestellt, doch jetzt verstärkte er den Selbstschutz heimlich.
Und dabei versuchte der Astyanax ja nur, höflich zu sein.
»Ich frage mich«, begann er und ließ das Simulacrum rotieren, »ob unsere irdischen Vorfahren früher einmal tatsächlich
so ausgesehen haben. Nicht so hübsch natürlich wie eure Nachgezüchteten der alten Art … Aber in ihrer Plumpheit und Rohheit irgendwie eindrucksvoller.«
»Ziemlich eindrucksvoll«, erwiderte Ghentun. »Aber ob sie so aussahen, werden wir niemals erfahren. Diese Aufzeichnungen sind längst verschollen.«
»Es macht aber Spaß zu spekulieren«, sinnierte der Astyanax. »Falls dir ein kleiner Wettstreit nichts ausmacht.«
Das Simulacrum blinzelte beide mit offensichtlicher Verblüffung an.
»Würde ich dem Simulacrum materielle Gestalt verleihen und diese Gestalt in den Ebenen aussetzen – was meinst du, Hüter, würde sie
Weitere Kostenlose Bücher