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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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angebracht, die sich nach oben und unten, rechts und links erstreckte, schier bis ins Unendliche. Die Emporen boten Zugang zu Bücherregalen mit unzähligen uralten Bänden. Im Hintergrund schwangen sich weitere Wendeltreppen in unglaubliche Höhen empor oder führten in nicht auslotbare Tiefen. Ein Homunculus nach dem anderen zog gebundene Ausgaben aus den Regalen, musterte sie mit gerunzelter Stirn, stellte sie wieder zurück und zog weiter, von Buch zu Buch, von Regal zu Regal, von Stockwerk zu Stockwerk.
    Als die Perspektive sich zur anderen Seite verlagerte, blickte Ghentun über einen schmalen Spalt hinweg auf eine weitere endlose Wand mit ebenso vielen Büchern und Regalen. Es kam ihm so vor, als liefen die ins Unendliche reichenden Bücherwände in einer vertikalen Kurve zusammen, um miteinander zu verschmelzen. Widerstrebend musste Ghentun einräumen, dass diese Kurve, die eine Verzerrung des Raums (und ewige Büchersuche) andeutete, eine faszinierende Nuance darstellte. Endlosreihen voller Zeichen, voller Informationen: unmöglich, all das quantitativ zu erfassen, jedenfalls für einen Instandsetzer. Vermutlich sogar für den Bibliothekar. Die ganze dokumentierte Geschichte, alle Erzählungen, die Berichte jedes einzelnen Zeitabschnitts, alle Theorien, ob richtig oder falsch – all das unlesbar, da verschollen in den riesigen Labyrinthen eines wie am Laufband produzierten Textes …
    »Dem Wirkungsbereich eines zusammengefügten, vollendeten Babels sind keine Grenzen gesetzt. Alles existiert dort gleichzeitig: alle Möglichkeiten, jeder Unsinn, jede Vermessenheit, jede Niederlage. Ein vollendetes Babel wäre tatsächlich das Großartigste, was je erschaffen wurde. Und das Gefährlichste. «
    Ghentun schoss plötzlich eine Frage durch den Kopf, obwohl – vielleicht auch weil – sie unmöglich zu beantworten war: Und was ist für ein Universum wichtiger – beliebiger Unsinn oder die Dinge, die wir unserer Meinung nach deuten und begreifen können?
    »Davon habe ich keine Ahnung«, erklärte er mit gesenktem Blick, doch er war bis ins Innerste erschrocken. Ein solches Babel würde sehr viel mehr umfassen als irgendein Universum …
    »Ist auch nicht nötig. Hauptsache, du verstehst, dass deine Arbeit noch nicht vollendet ist«, sagte der Stadtfürst. »Und du wirst sie zu Ende führen, komme, was da wolle. Es wird nur noch wenige Schlaf-Wach-Zyklen dauern, bis das Chaos durch all unsere Verteidigungslinien bricht. Ich gestehe meine Niederlage ein. Uns bleibt keine Wahl, es gibt keinen Grund mehr, irgendetwas hinauszuschieben. Ich habe die Schlüssel zur Stadt den Angelins im Zerstörten Turm übergeben, und das gilt auch für meine Befehlsgewalt. Ich weiß, dass du gemeinsam mit dem Nachwuchs der alten Art die Grenze des Realen überqueren möchtest – das wünschst du dir schon lange. Geh jetzt , Instandsetzer. Es gibt keine Stadtgesetze mehr, die dich daran hindern könnten. Tu, was du tun musst, um deine Schützlinge nach Nataraja zu bringen, falls es noch existiert. Was sind schon ein paar Schlaf-Wach-Zyklen? Der Bibliothekar wird sein Vorhaben weiter vorantreiben. Wir beide werden uns nie wieder begegnen, jedenfalls nicht in dieser Schöpfung.«
    Der Astyanax wurde so grau wie altes Felsgestein, und sein ursprüngliches Selbst verlagerte sich an einen anderen Ort. Die außergewöhnliche Begegnung war vorüber.
    Ein Angelin führte den schweigenden Ghentun zurück zu der Plattform und einer wartenden Photonenscheibe.
    Er hatte die Überfälle – die Übergriffe des Chaos – schon so lange kartiert, dass er das, was der Astyanax gesagt oder angedeutet hatte, annähernd begriff. Bald würden die Realitätsgeneratoren zu schwach sein, um irgendeines der Bione noch länger zu schützen. Ghentun war klar, dass er unverzüglich handeln musste. Er musste dieses Experiment auf menschliche Weise zu Ende bringen, einen letzten Versuch wagen, die Aufgabe zu erfüllen, die man ihm vor so langer Zeit übertragen
hatte – völlig unabhängig davon, was die Eidola wollten und wie sie das Ende aller Zeit philosophisch einschätzten und debattierten.
    Nur vage war dem Hüter bewusst, dass er möglicherweise die letzte Karte war, die der Stadtfürst noch ausspielen konnte.

42
Die Ebenen
    Grayne zuliebe schloss die Gestalterin sich Ghentun an und tat etwas, was sie so gut wie nie tat: Sie verließ den Hort. Für andere unsichtbar, tauchten die beiden in der Nische der alten Sama auf und beugten sich über die

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