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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Beifahrersitz. Es gab niemanden mehr, den er hätte retten können.

51
    Ellen saß am Steuer von Miriams altem Toyota, Agazutta neben ihr. Auf den Rücksitzen hockten Farrah und Ginny, die fasziniert beobachtete, wie eine Bernsteinkette am Rückspiegel hin und her schwang. Sie durchkämmten eine regennasse Straße nach der anderen, um nach jemandem zu suchen, der jung und männlich war, wie Ginny den spärlichen Gesprächsfetzen entnommen hatte.
    Auch jetzt noch schwappte das Regenwasser in den Abflussrinnen und ergoss sich von Überführungen und Ausfahrten auf die Straßen, so dass sie nur langsam vorankamen.
    Wieder einmal empfand Ginny die Situation nicht nur als mysteriös, sondern als unbeschreiblich bizarr. Hier saß sie nun, umgeben von unheimlichen Frauen mittleren Alters, die alle überaus neugierig waren. Doch sie mochten sich noch so viel Mühe mit ihr geben, einen noch so guten Plan verfolgen: Die wesentlichen Fragen wollten sie genauso wenig beantworten
wie Bidewell. Allzu oft hatten sie erwidert: Abwarten, dann werden wir schon sehen. Und ihr eigenes Schicksal war so sehr mit dem der Frauen verknüpft, dass sie litt wie ein eingepferchtes wildes Tier.
    Der Sturm hatte jemanden gejagt; jedenfalls hatten die Frauen darüber diskutiert, ehe sie sich für die Fahrt über die West Seattle Bridge entschieden hatten. Selbstverständlich taten Stürme so etwas nicht.
    Über die Schulter warf Agazutta einen Blick nach hinten. »Was spüren Sie?«, fragte sie Ginny.
    Ginny schüttelte nur den Kopf. Vor sich spürte sie lediglich eine beängstigende Stasis – eine ausdruckslose, alles vereinnahmende Leere. »Sagen Sie’s mir. Ich fahre hier nur mit.«
    »Möglich, dass der Sturm heute nicht das einzige ungewöhnliche Ereignis ist«, bemerkte Ellen. »Möglich, dass Sie uns dabei helfen könnten, einen anderen Menschen zu retten, der genauso wichtig ist wie Sie. Also bitte, Virginia – sagen Sie uns, was Sie spüren.«
    »Wir sind nichts anderes als Holzscheite, die zufällig aus einem Kaminfeuer herausgerutscht sind«, erwiderte Ginny und verkroch sich so tief wie möglich in ihren Sitz. Sie fühlte sich elend und verängstigt.
    Farrah rieb sich die Nase. »Riecht tatsächlich verbrannt hier.«
    »Sind Sie wirklich Hexen?«, platzte Ginny heraus.
    Agazutta schnaubte verächtlich. »Das ist nur ein Scherz, Liebes. Glauben Sie, wir hätten das hier zugelassen, wenn wir wirklich Macht hätten?«
    »Falls überhaupt jemand magische Kräfte hat«, warf Ellen ein, »dann vermutlich Sie oder Bidewell. Nicht, dass wir in letzter Zeit viel davon gesehen hätten.«
    »Diese Bücher«, gab Farrah zu bedenken.
    »Alles frei erfunden«, entgegnete Agazutta.
    »Aber sie sind alt«, sagte Farrah.
    Ellen zischte, was man auch als Kritik auffassen konnte. »Wir müssen ihm vertrauen, uns bleibt ja gar nichts anderes übrig. Und wir müssen auch Ginny vertrauen.«
    »Unserer schlecht gelaunten Ginny«, meinte Farrah.
    »Nicht anders als du, jedenfalls anfangs«, gab Agazutta zurück.
    »Teufel noch mal, ich bin’s immer noch.«
    »Sind Sie lesbisch?«, entfuhr es Ginny.
    Eisige Stille. »Hier scheint ein grundsätzliches Missverständnis vorzuliegen«, sagte Farrah schließlich. »Jemand sollte das Mädchen aufklären.«
    »Im Prinzip spielt das überhaupt keine Rolle«, erklärte Ellen Crowe. »Bis auf mich …«
    »Bis auf Ellen … «, wiederholte Agazutta mit einer Spur von Gehässigkeit, »… hat diese Gruppe ein Zölibatsgelübde abgelegt«, vollendete Ellen den Satz.
    »Was erklärt, warum wir so viel trinken und obszöne Romane lesen«, sagte Farrah.
    »Warum haben Sie kein Zölibatsgelübde abgelegt?«, wollte Ginny von Ellen wissen und streckte den Kopf vor.
    »Das hat nichts mit Fragen der Magie zu tun, aber sehr viel mit dem Angeln«, erwiderte Agazutta. »Sie sind hier nämlich nicht der Köder, meine Liebe. Der Köder ist Ellen .«
    »Niemand will mir glauben, dass es alles rein …«, setzte Ellen an, doch Agazutta fuhr ihr dazwischen. »Ist er das?«
    Durch die Windschutzscheibe spähte Ellen zu einem mageren jungen Mann hinüber, der mit eingezogenen Schultern
und tropfnassem Haar den holperigen Fußgängerweg entlangging. Als der Toyota abbremste, setzte Ginny sich unwillkürlich auf. Der junge Mann hatte sie nicht bemerkt – oder tat zumindest so.
    »Das Schoßhündchen wirkt ganz schön verdreckt«, bemerkte Agazutta.
    Von hinten sah er wie der Mann aus, den Ginny während des Gauklermarkts auf einem

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