Die Stadt am Ende der Zeit
dass er es kaum noch ertragen konnte. Da draußen waren so viele verwirrte, orientierungslose Menschen unterwegs, die versuchten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch die Zeitschleife warf sie immer wieder zurück und würde sie letztendlich – sobald der Ball nicht mehr aufprallte – erdrücken. Ohne zu wissen, wie ihnen geschah, würden sie sich nicht mehr rühren können, wie Fliegen, die in Teer gefangen waren.
Es war so plötzlich geschehen, wenn auch nicht ohne Vorzeichen.
Schließlich konnte Ginny nicht länger warten. Sie ging die Rampe hinunter und stellte sich mit verschränkten Armen neben Jack.
Sie war jünger als er, vielleicht achtzehn, doch der Ausdruck ihrer Augen sagte ihm, dass sie nicht einfach irgendein Mädchen war. Seit ihrer unruhigen, trostlosen Fahrt zum Lagerhaus hatten sie keine zwei Worte miteinander gewechselt.
»Wie hat der Sturm dich gefunden?«, fragte sie.
Verlegen zuckte Jack die Achseln. »Ich habe eine gewisse Telefonnummer angerufen. Daraufhin haben ein Mann und eine Frau mich buchstäblich eingesackt. Und danach … Ich versuche immer noch herauszufinden, was danach passiert ist.«
»Es war der Riss in der Zeit.«
»Riss in der Zeit?«
»Ja, das passiert, wenn man der Königin in Weiß begegnet. «
»Wer, zum Teufel, soll das sein? Noch eine alte Frau?«
»Ich weiß es nicht. Das ist nur einer ihrer Namen. Lass uns ins Haus gehen, da ist es wärmer. Außerdem solltest du mit Bidewell reden.«
Die Luft im grünen Lagerhaus roch angenehm: nach trockenem Holz und altem Papier. Jack sah sich in dem Raum um, musterte die hohen Wände mit den unlackierten Holzverkleidungen und die dicken Balken, die aus den Stämmen großer alter Zedern hergestellt waren. Durch die hohen Fenster und Dachluken drang trübes, gefiltertes Licht. Überall waren Lattenkisten und Kartons aufgestapelt. Ginny folgte ihm bei seinem Rundgang wie eine kleine Schwester, was ihm anfangs gar nicht gefiel.
Er trat an die breite Stahltür und klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen. Auf der anderen Seite unterhielten sich die Damen des Literaturzirkels mit einem älteren Mann, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Als er Ginny ansah, lag plötzlich Scheu in ihrem Blick. Sie wirkte wie ein junges Fohlen, das überlegt, ob es ausreißen soll. »Was liegt hinter dieser Tür?«, fragte er.
»Dort hat Mr. Bidewell sein Büro und seine private Bibliothek. «
»Noch mehr Bücher?«
»Jede Menge, alte wie neue. Er lässt sie sich kistenweise aus aller Welt kommen. Manche sind unglaublich. Ich weiß nicht, wo er sie aufstöbert. Ich hab ihm geholfen – helfe ihm dabei –, sie zu katalogisieren. – Was waren das für Leute, die dich entführt haben?«
»Der Mann nannte sich Glaucous. Außerdem war eine dicke Frau dabei, eine wahre Riesin. Sie hieß Penelope, glaube ich.«
»Mich hat auch ein Paar entführt, in Baltimore. Ich konnte zwar entkommen, aber sie sind mir bis hierher gefolgt. Dr. Sangloss hat mich gleich nach meiner Ankunft in Seattle zu Bidewell geschickt.«
»Da hast du Glück gehabt. Meine beiden Entführer haben Wespen eingesetzt.«
Ginny kniff die Augen zusammen. »Wespen?«
»Genau.« Er schwenkte eine Hand und ließ die Finger spielen. »Als die Frau ihren Mantel aufgemacht hat, sind sie ausgeschwärmt und haben mich verfolgt.«
»O Gott!«
»Und bei dir? Was waren das für Leute?«
»Ein Mann mit einer Silbermünze. Und eine magere Frau, die zwischen ihren Fingern Flammen auflodern lassen konnte.«
»Ich hab schon immer von seltsamen Dingen gewusst«, sagte Jack, »aber nicht von solchen wie diesen . Nicht von solchen, die so verrückt sind wie meine Träume.«
»Was weißt du noch von deinen Träumen?«
»Nicht viel. Träumst du auch?«
Sie nickte. »Alle Schicksalswandler träumen. Das hat mir Mr. Bidewell erzählt.« Jack biss die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein. Er bemühte sich, nach außen hin ruhig zu wirken. »Schicksalswandler?«
»Wie du und ich. Wir wandeln unser Schicksal und springen von einer Weltlinie zur anderen, wenn die Chancen schlecht für uns stehen.« Sie umriss mit der Hand eine waagerechte Linie auf Schulterhöhe. »Wir tauchen zur Seite ab. Das weißt du doch, oder nicht?«
»Ich wusste nicht, dass es eine Bezeichnung dafür gibt.«
»Allerdings erleichtert es unser Leben nicht gerade. Ich mache immer noch Fehler. Manchmal denke ich …« Erneut dieser scheue, verstohlene Ausdruck in ihren Augen.
Jack begann
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