Die Stadt am Ende der Zeit
und verwendete dabei Ausdrücke der Nachgezüchteten, die alle verstehen konnten, so als hätte er schon oft mit ihrer Art zu tun gehabt.
Obwohl man sie erst so spät und zwangsweise rekrutiert hatte, trugen sich nur drei Gruppenmitglieder mit der Absicht, aus dem Lager abzuhauen. Einer davon war Perf aus Graynes
ehemaliger Gruppe, ein schlaksiger, unbeholfener Junge, der noch grün hinter den Ohren war. Er hatte Heimweh nach seiner Nische und ließ es jeden wissen.
Herza und Frinna versuchten sich während einer Schlafphase davonzuschleichen, wurden aber schnell wieder eingefangen. Sie probierten es nie wieder.
Danach sah auch Perf von jedem Fluchtversuch ab.
58
Der Zerstörte Turm
Ein warmer Schatten trieb über Jebrassy hinweg, während er in dem kleinen Zimmer lag, das der Nische seiner Paten in den Ebenen recht ähnlich war. Es kam ihm so vor, als würde er gewogen und vermessen. Er wusste zwar nicht, auf welche Weise das geschah, aber es war eine gründliche, ihm unangenehme Untersuchung, auch wenn sie nicht wehtat. »Was geschieht hier?«, fragte er.
Keine Antwort. Stattdessen schien sich das Vermessen jetzt auf andere Punkte zu konzentrieren, weiter oben und außen, und schließlich auf sein Selbst. Sein denkendes Selbst. »Was tust du da?«
Der warme Schatten schien zufrieden. Gleich darauf hörte Jebrassy eine Stimme, die so freundlich und vertraut klang, dass er sicher war, sie schon früher vernommen zu haben. Aber ihm fiel nicht ein, wer es sein könnte.
»Weißt du, was mit dir geschehen ist?«
»Man hat mich zum Zerstörten Turm gebracht.«
»Weißt du auch, warum?«
»Uns sagt man solche Dinge nicht, denn dazu sind wir zu schwach und zu dumm.«
Die Stimme drang jetzt direkt in sein Ohr. »Im Gegenteil, ihr habt euch gut geschlagen. Wahrscheinlich seid ihr die stärksten Geschöpfe in der ganzen Kalpa. Auf jeden Fall aber die wichtigsten in dieser Phase, in der meine Arbeit fast getan ist.«
»Bist du der Bibliothekar?«
»Ein Teil von ihm – ein Teil, dem es gelungen ist, sich über diese halbe Ewigkeit hinweg ein wenig Verstand zu bewahren. Weißt du über die Eidola Bescheid?«
»Nein.«
»Na ja, macht nichts. Der Bibliothekar ist zu einem Großen Eidolon geworden. Und das bedeutet, dass er nicht mehr versteht, was es heißt, klein und unbedeutend zu sein. Deshalb hat er einige seiner vielen Selbst-Versionen von sich abgelöst, damit sie diese Aufgabe übernehmen. Man nennt sie Epitome . Im Moment redest du mit einer solchen Version des Bibliothekars. «
»Aber du bist nicht so kalt wie diese blauen Dinger.«
»Ich bin ja auch näher am Kern des Bibliothekars. Was du mir erzählst und zeigst, erfährt der Bibliothekar sofort.«
»Ich würde dich gern sehen.«
»Bald. Doch du musst wissen, dass alles, was du sehen wirst, eine Illusion ist. Selbst wenn du mich jetzt sehen könntest, würdest du nicht zum Schlag gegen mich ausholen, trotz deiner geballten Fäuste. Denn es wäre so, als zieltest du auf einen Schatten; es würde dir keine Befriedigung verschaffen.«
Jebrassy versuchte seine Hände zu lockern. »Was wird als Nächstes geschehen?«
»Man wird dich im Lauf der Zeit freilassen, damit du deine Pflicht erfüllen kannst. Doch für den Moment müssen wir nur begreifen, was aus dir geworden ist. Du vibrierst wie eine Glocke, junger Nachgezüchteter – wie eine Glocke, die niemand in dieser Zeit geläutet hat. Deine Vibrationen sind wichtig. Im Augenblick ist nur eine Hälfte von dir so präsent, dass ich sie einschätzen kann. Doch auch die andere Hälfte muss sich manifestieren – die Ereignisse müssen dich erst noch einholen. Bis dahin werden wir uns kennenlernen, und ich werde dir einige nützliche Dinge beibringen.«
»Wo ist Tiadba? Ist sie hier oder anderswo?«
»Ich finde es interessant, dass du die Antwort darauf bereits weißt. Nein, sie ist nicht hier im Turm und wurde auch nicht zu den Ebenen zurückgebracht. Wo ist sie deiner Meinung nach?«
Jebrassy hasste es, wenn man Spielchen mit ihm trieb, aber er wusste es tatsächlich. »Sie ist im Hochwasserkanal. Zusammen mit den anderen, den Marschteilnehmern. Ich muss zu ihr.«
»Du würdest ihr wenig nützen. Wie schon gesagt, müssen die Ereignisse dich erst einholen, damit du dein ganzes Potenzial entfalten kannst. Und dann wirst du so weit sein, dass du dich deinen Freunden anschließen kannst.«
59
Der Hochwasserkanal
Pahtun sorgte dafür, dass sich seine neun Schützlinge im Kanalbett unterhalb des
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