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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Überfalls sie sich doch noch einverleibt? Lebte sie überhaupt noch? Jebrassy stöhnte auf und drückte mit den Händen gegen den schimmernden Umhang.
    »Tu das nicht«, sagte ihm eine leise Stimme ins Ohr, die wie das helle Tschilpen eines Buchstabenkäfers klang. »Hier draußen ist es kalt, und der Bibliothekar möchte, dass du dich gesund und munter fühlst. Ihr beide werdet jetzt dieser albernen blauen Gestalt folgen. Es ist mir ein Vergnügen, euch zum wunderbarsten Ort in der ganzen Kalpa zu führen. Vielleicht ist es sogar der wunderbarste Ort, der den Menschen im ganzen Kosmos geblieben ist.«
    Verwirrt musterte Jebrassy zuerst den Hochgewachsenen und danach die kleine blaue Gestalt: Sie alle betrachteten sich als Menschen , trotz ihres Äußeren – lag das Geheimnis darin?
Als er vorwärtsschlurfte, merkte er, dass das schimmernde Gewand ihm folgte, also ging er mit normaler Geschwindigkeit weiter und hielt mit der nackten blauen Erscheinung Schritt. Ghentun blieb an seiner Seite. Selbst als ein messerscharfer grauer Lichtstrahl über das glatte Dach der Kammer glitt, so als wolle er sie blenden, drosselten sie das Tempo nicht; allerdings fuhr Jebrassy unwillkürlich zurück.
    Im Zentrum angelangt – Jebrassy kam es so vor, als hätten sie nur Minuten bis dorthin gebraucht –, warf er einen Blick zurück, musterte die Reihe hoher Bogenfenster in der Ferne und begriff plötzlich, wo sie waren, denn er erinnerte sich an die Geschichten in den Büchern. »Wir sind in Malregard, stimmt’s?«, fragte er Ghentun.
    »Manche nannten es früher so«, erwiderte Ghentun. »Wir beide befinden uns weit oberhalb unseres Wohnbezirks und auch weit oberhalb unserer gesellschaftlichen Stellung, mein Junge. In der Region der Großen Eidola. Weder denken noch verhalten sie sich so wie wir.«
    »Aber wir alle sind doch Menschen«, entgegnete Jebrassy.
    Der Hüter fasste sich belustigt an die Nase – eine Geste der Nachgezüchteten.
    »Passt auf, wo ihr hintretet«, warnte das Angelin. »Am besten, ihr schließt die Augen. Wir vektorieren jetzt zur Spitze des Turms, so weit sie noch steht, natürlich.«
    »Was hat den Turm zerstört?«, fragte Jebrassy.
    Ghentun reagierte auf die Frage mit einem leisen, mehrdeutigen Laut. »Du brauchst dich nicht mit der Vergangenheit zu befassen, denn davon gibt es schon viel zu viel. Du solltest nur nach vorn blicken. Ausnahmsweise ist die Zukunft mit dir auf Augenhöhe.«
    Jebrassy wusste nicht, ob er das als Beleidigung auffassen sollte.
    Silberne Kurven tanzten um sie herum, als ob sie sich vorwärtsbewegten, dennoch nahm er keine Veränderung wahr. Und plötzlich standen sie unter einem widerwärtigen Himmel, in dem Feuerräder und Welten herumwirbelten. Irgendetwas blickte auf sie hinunter; allerdings war es unmöglich, es wirklich zu erkennen oder einzuschätzen. Jebrassy schlug sich die zu Fäusten geballten Hände vor die Augen. Er hatte das Gefühl zu fallen, dachte, er sei wieder mit Tiadba zusammen, fliege über die Ebenen, und der Wächter habe ihn losgelassen …
    Überall waren Stimmen zu hören, deren Worte er nicht verstand. Dröhnender Lärm ließ seinen Körper vibrieren. Doch er konnte den Gedanken nicht ertragen, hinunterzufallen und nicht zu sehen, wo er aufschlagen würde. Er musste es wissen. Also nahm er die Hände von den Augen, doch einen Moment lang wollten sie sich nicht öffnen. Er hatte bereits zu viel gesehen: etwas Grelles in Regenbogenfarben, von dem große silberne Fahnen in etwas Düsteres, Gewölbtes aufstiegen; strahlend rote Objekte, die zupackten und sich bewegten und ihn an die riesigen Zangen erinnerten, die Landarbeiter dazu hernahmen, um Hanfballen zu wenden …
    Über ihm oder unter ihm, er wusste es nicht, waren Tausende weißer Gestalten aufgereiht, deren Haltung geduldiges Abwarten ausdrückte. Sie hatten die Hände auf dem Rücken verschränkt. Jede Gestalt hatte zwei Arme, zwei Beine und einen runden weißen Kopf. Doch sie hatten keine Gesichter, überhaupt keine Gesichtszüge, nur glatte weiße Schädel.
    Er fiel gar nicht, sondern schwebte (offenbar mit dem Kopf nach unten) oberhalb eines gigantischen Gewirrs von erhöhten
Straßen, an deren Rändern unzählige weiße Gestalten in Reih und Glied standen oder sich auf verblüffend unterschiedliche Weise bewegten. Manche gingen zu Fuß, anderen trieben an den Straßen entlang, einige schwirrten mit schwindelerregendem Tempo über das Gebiet hinweg, schossen lautlos hierhin und dorthin

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