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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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sie genau hier wohnten, hier ihre Habseligkeiten aufbewahrten. Das hier war sein Haus, dasselbe wie früher. Wenigstens das war dank höherer Mächte gleich geblieben.
    Welche Mächte es auch sein mögen, die sich um meine Verrücktheiten kümmern und sie sich womöglich als Verdienst anrechnen. Und was ist mit den Integralläufern?
    Das Gras war zu lang, braun und mit Unkraut überwuchert. Er stieg die Stufen von der Straße hoch und ging ruckartig und verstohlen über die Schulter blickend durch den seitlichen Garten. Offenbar war dieser Körper nicht daran gewöhnt, das Haus bei Tageslicht zu betreten. Durch hüfthohen Dschungel stolzierte er so steif wie eine Vogelscheuche zur hinteren Tür.
Die alten Rosenbüsche, die früher seiner Tante gehört hatten, waren verschwunden. Als er einen Bogen um die rückwärtige Veranda machte und überlegte, wo er einen Schlüssel versteckt haben könnte, musste er feststellen, dass es gar keinen gab.
    Die Fenster waren mit Pappe abgedichtet.
    Doch dem Körper fiel etwas ein: Er ließ sich auf die Knie nieder (meine Güte, wie die Schlange in seinen Gedärmen sich dabei wand!), schob ein Kellerfenster auf, zwängte sich hindurch, landete auf einer Kiste und trat auf den mit Teppich belegten Betonboden. Pitsch – patsch : Der Teppich war klitschnass, und der ganze Keller stank nach Schimmel und Moder. Der Strom war abgestellt. Im Dunkeln watschelte er die Kellertreppe hinauf, prallte im Erdgeschoss mit der Schulter gegen eine Wand und tastete sich bis zum Badezimmer vor. Nachdem er die Hose heruntergelassen und sich auf die Toilette gesetzt hatte, brüllte er vor Schmerz auf. Fast wäre er ohnmächtig geworden. Er schlug gegen die Wand, wobei das Toilettenpapier im hölzernen Halter den Aufprall seines Ellbogens dämpfte.
     
    Eine halbe Stunde später beugte er sich nach vorn. Am Waschbecken des Badezimmers stieß seine Hand auf einen Kerzenstumpf und eine Streichholzschachtel. Nachdem er die Kerze angezündet hatte, zog er sich nackt aus und duschte kalt. Er überließ es dem Körper, das zu tun, woran er gewöhnt war.
    Einen Fuß aus der Duschkabine streckend, tastete er nach dem schmuddeligen Handtuch. Musterte sich im Spiegel des Arzneischränkchens. Die Augen eingesunken und stumpf. Spärliches, zerzaustes Haar. Fahle Haut unterhalb eines zotteligen, verfilzten Bartes. Jahre, in denen er den Großteil seiner Kalorien aus der Flüssignahrung namens Alkohol bezogen hatte.
Aus dieser Ruine von Mund mit den verfaulten Zähnen hörte er eine unbekannte, raue Stimme dringen: »O Gott.«
    Das hier war nicht Daniel Patrick Iremonk und auch keine andere Version Daniels. Diesmal war er in einen Körper geschlüpft, der nicht einmal entfernt seinem eigenen ähnelte. Bei seinem Abflug war er in einem gänzlich neuen Spiel gelandet, das ihm einen unbekannten, schwindelerregenden Aspekt seines besonderen Talents offenbarte.
    Er steckte in einem anderen Mann, lebte das Leben eines anderen Mannes.

VIERZEHN NULLEN

6
Die Kalpa
    Fünfundsiebzig Jahre waren vergangen, seit Ghentun sich im Zerstörten Turm mit dem Angelin getroffen hatte, weniger als ein Lidschlag für jedes Große Eidolon, doch eine lange Zeitspanne für einen bloßen Instandsetzer.
    Ungesehen überquerte der Hüter die Brücken, die die drei Inseln miteinander verbanden – die Basisplateaus, die über den Hochwasserkanälen aufragten und die übereinandergeschichteten Ebenen stützten. Danach nahm er zunächst den Aufzug nach oben und stieg anschließend durch die Treppenhäuser des riesigen Blocks, der fünfzig Stockwerke mit Nischen umfasste, weiter empor. Das tat er fast in jeder Schicht, um zu überwachen, wie seine Schützlinge, die Nachzucht einer uralten Art, arbeiteten, herumwuselten, schwatzten, über Sorgen klagten, ihre Kinder abholten, die mit großen Augen zum ersten Mal den Hort verließen, oder Mahlzeiten zubereiteten. Nahrungsmittel konnte man auf den belebten Märkten erwerben – die Ernte von Weiden und Äckern, die hinter den beiden breiten Hochwasserkanälen namens Tartaros und Tenebros lagen.
    Nur noch in den Ebenen der Kalpa gab es bemerkenswerte Zeitenwechsel: Geburt und Tod. Sobald der Düstere Aufseher die Alten von ihrem Joch erlöst hatte, wurden Kinder im Hort herangezogen, denn die urzeitliche Biomasse der Alten wurde recycelt und für neue Kinder verwendet. Einige wenige davon – allesamt von Natur aus Wanderer – wählte der Hüter für eine besondere Ausbildung aus, die sie darauf

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