Die Stadt am Ende der Zeit
»Mr. Glaucous. Wie schön, Sie zu sehen.«
Glaucous wusste, wann ein Glücksjäger drauf und dran war loszuschlagen, er kannte die Anzeichen. Also würde er schnell vorgehen müssen.
Der Kopf der gekrönten Dame auf dem Silberdollar, den Chandler immer noch zwischen den Fingern hielt, wies nach Norden. Glaucous verdrehte ein Auge nach oben, zog einen entgegengesetzten Strang nach unten, bog ihn zur Seite – und der Kopf wies nach Süden.
Auch Chandlers Herz geriet aus der Bahn und füllte dessen Brustkorb sofort mit Blut. Die zuckenden Finger lösten sich von der Münze, so dass sie flach auf dem Teppich landete, mit
der Adlerseite nach oben. Sein Gesicht nahm einen ungesunden Grünton an. Lautlos und steif wie ein Brett kippte er nach vorn, aufs Gesicht, und begrub die Münze unter sich.
Auch er hatte jetzt die Kehrseite der Medaille erwischt.
Die verschleierte Frau im Badezimmer schrie auf. In Chandlers Abwesenheit konnte sie ihr Talent und ihre Obsession ungezügelt ausleben: Flammen schossen unter der Badezimmertür hervor und setzten alles ringsum in Brand. Nur ein ganz klein wenig trug Glaucous dazu bei, der Dame ihren Herzenswunsch zu erfüllen.
An diesem Nachmittag blieb Glaucous, versunken in Melancholie, in seiner warmen Wohnung sitzen. Er hatte die Jalousien heruntergelassen. Das einzige Licht im vollgestopften Wohnzimmer fiel auf das Telefon, das auf einem Tisch neben seinem Sessel stand. Hinter der geschlossenen Schlafzimmertür trällerte Glaucous’ Gefährtin Penelope mit hoher, kindlicher Stimme vor sich hin. Im Hintergrund schwang ein ständiger Summton mit, der so klang, als brenne eine Glühbirne durch.
Glaucous’ Lider wurden schwer. Vor einer Stunde hatte er einen kärglichen Mittagsimbiss zu sich genommen: einen Apfel und eine Scheibe Weißbrot, belegt mit drei dünnen Salamischeiben. In den frühen Londoner Tagen wäre das ein Festmahl für ihn gewesen.
Er starrte auf das Telefon in dem Quadrat aus goldenem Licht. Irgendetwas tat sich. An der von ihm ausgeworfenen Angelschnur spürte er ein starkes Zerren, und das kündigte einen Fang an. Bisher hatten seine Auftraggeber ihn stets über bevorstehende Änderungen der Anweisungen oder Spielregeln informiert.
Doch diesmal hatten sie ihn nicht vorgewarnt. Vielleicht war dazu keine Zeit gewesen.
War es ein Fehler gewesen, Chandler auszuschalten?
Als er seiner Intuition nachgab, spürte er mindestens zwei, höchstwahrscheinlich sogar drei kleine Vögel in unmittelbarer Nachbarschaft. Allerdings kam ihm einer davon befremdlich vor, anders als erwartet. Bei den beiden anderen war er sich aufgrund langjähriger Erfahrung sicher, dass er ihre Gewohnheiten, Sorgen, Ängste und Bedürfnisse kannte.
Eine dunklere Ära zog herauf, das spürte Max Glaucous in den lockeren, treffsicheren Fingern: die lange befürchtete, lange erwartete Zerstörung, auf die Freiheit folgen würde. Seine eigenen Probleme würden damit eine ungewöhnliche Lösung finden.
Drei Integralläufer.
Whitlow wird sich uns anschließen, genau wie der Nachtfalter. Ohne mich können sie das hier nicht bewältigen. Endlich wartet die Belohnung auf mich.
Und meine Erlösung.
5
Wallingford
Weil Daniel versuchte, seine aufgewühlten Gedärme und sein dringendes Bedürfnis nach Entleerung unter Kontrolle zu halten, ging er wie ein Spastiker. Der Fußweg, alt, grau und voller Risse und Kuhlen, stellte einen einzigen Hindernisparcours dar. An der Sunnyside Avenue wandte er sich nach rechts, wild
entschlossen, es noch bis nach Hause zu schaffen. Er schämte sich. Stets hatte er den inneren Kurs selbst bestimmt und sich auf den Hauptstraßen und Seitenwegen des zerfaserten Multiversums im Griff gehabt. Und jetzt war er nah daran, sich in die Hose zu machen.
Sein Viertel hatte sich nicht so verändert, dass er Unterschiede zu früher ausmachen konnte. Allerdings hatte er die Gebäude, die nicht unmittelbar an sein Haus angrenzten, auch nie sonderlich beachtet. Und jetzt hatte er es so eilig, dass keine Zeit blieb, eine Liste offensichtlicher Veränderungen aufzustellen.
Die Sonne ging bereits unter. Dieser kranke neue Körper hatte weder Uhr noch Schlüssel dabei. So lange Daniel auch herumkramte, weder in irgendeiner Tasche noch im Rucksack konnte er einen Schlüssel entdecken. Doch während er und sein neuer Körper sich der Betontreppe, dem Spitzdach der Veranda und den klobigen, sich nach oben verjüngenden Stützträgern näherten, waren sie sich darin einig, dass
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