Die Stadt am Ende der Zeit
könnten wichtiger für jene Stadt am Ende der Zeit sein, als du wissen magst, junges Fräulein. Was und wo diese Stadt auch sein mag.«
Während eine weitere Woche verstrich, wuchs Ginnys innere Unruhe. Sie spürte die schlimmen Unterströmungen, von denen Bidewell gesprochen hatte. Und etwas, das noch alarmierender war: Der Fluss, der vor ihr lag, schien auf ein plötzliches Ende zuzusteuern. Sie konnte nicht sagen, wann das Ende eintreten würde, ob in Wochen, Monaten oder einem Jahr. Doch dahinter … lag das Nichts. Bidewell weigerte sich, ihr mehr zu verraten, und die meisten ihrer Gespräche liefen darauf hinaus,
dass er abschließend krächzte: »Kann man nicht wissen, kann man nicht wissen!«
In Bidewells Lagerhaus war eine Bibliothek von mehr als 300 000 Büchern untergebracht. Ginny schätzte die Anzahl der Werke in den Regalen durch schnelles Durchzählen und die Bücher in den Kisten durch noch schnellere Hochrechnungen. Außer Bidewell und ihr lebten auch sieben Katzen im Lagerhaus, alle mit unnatürlich vielen Zehen ausgestattet. Zwei schwarz-weiß gemusterte Kater schienen sogar kleine Daumen zu haben. Während Ginny Bücher einsortierte und zwischendurch las, tapste der kleinere der beiden, der gerade dem Babyalter entwachsen zu sein schien, leise zu ihr hinüber und rieb sich so lange an ihren Fußknöcheln, bis sie ihn schließlich aufhob, auf ihren Schoß setzte und streichelte. Der Kater, dessen geschmeidiger Körper unter dem weichen Fell Wärme ausstrahlte, war auf der Brust mit einem weißen Lätzchen gezeichnet und hatte eine weiße Pfote. Er schnurrte zufrieden, bis sie mit dem Streicheln aufhörte. Danach stemmte er sich gegen ihre Brust und tippte mit einer seiner breiten Pfoten leicht gegen ihr Kinn, was ein bisschen zwickte.
Von ihrem belegten Brot wollte er nichts abhaben. Stattdessen legte er an diesem Abend eine äußerlich unversehrte, aber sehr tote Maus am Fußende ihres Bettes ab, was bezüglich seiner Ernährungsgewohnheiten wohl als Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen war.
Alle Katzen waren sehr eigenständige Wesen und reagierten nur selten, wenn sie lockend nach ihnen rief oder mit ihnen sprach. Aber während der langen Nächte fand sie oft eine, zwei, manchmal auch drei Katzen am Fußende ihres Bettes liegen, die Pfoten unter den Körper gezogen, die Augen zu Schlitzen
verengt. Sie beobachteten Ginny und schnurrten dabei liebevoll und zufrieden. Offenbar mochten sie Bidewells neue Hausgenossin.
Selbstverständlich hatten die Katzen vor allem die Aufgabe, Mäuse und Ratten vom Lagerhaus fernzuhalten, denn Bidewell hielt nicht viel von angenagten Büchern.
Seit sie Freundschaft mit den Katzen geschlossen hatte, war ihr die Zeit nicht mehr so lang. Wenn eine nach der anderen sich auf Ginnys Schoß zusammenrollte, fiel es ihr sogar leichter, das Lesepensum zu bewältigen, das Bidewell ihr aufgehalst hatte. Neben ihrem Arbeitstisch hatte er mathematische und physikalische Lehrbücher sowie mehrere Abhandlungen über hinduistische Mythologie aufgestapelt. Drei der Physikbücher schienen über das hinauszugehen, was Ginny für den aktuellen Stand von Theorie und Forschung hielt. Beispielsweise handelten sie Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit so ab, als wären sie das Normalste von der Welt, und beschrieben ausführlich fünfdimensionale Scheiben und Querschnitte gewisser Phänomene in der Raumzeit.
Neben diese Werke hatte Bidewell fünf Bücher mit größtenteils leeren Seiten gelegt, die er als »Ausschuss« bezeichnete. Als Ginny den Stapel genauer untersuchte, stellte sie fest, dass bei allen Büchern auf jeder jungfräulich weißen Seite nur ein einziger Buchstabe stand.
Welche mysteriösen Dinge in Büchereien, Buchhandlungen und zwischen den Kartonstapeln im Lager von Verlegern auch vor sich gegangen sein mochten: Für diese größtenteils leeren Bücher schien Bidewell sich kaum zu interessieren. »Das sind bestenfalls Nullnummern, Freiräume, Leerstellen zwischen Tastenanschlägen. Schlimmstenfalls lenken sie vom Wesentlichen
ab. Du kannst sie dazu benutzen, Tagebuch zu führen oder Notizen festzuhalten.« Er warf einen Blick auf den anderen Stapel. »Die da dienen deiner Bildung, die wir ja trotz aller Einschränkungen vorantreiben müssen.«
»Und haben die ebenfalls Mängel?«, fragte sie. »Soll ich nach Fehlern Ausschau halten und sie markieren?«
»Nein. Deren Fehler sind nur natürlich und unvermeidbar, es sind die Fehler jugendlicher
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