Die Stadt am Ende der Zeit
Unwissenheit.«
In den wenigen Jahren auf der staatlichen Schule hatte Ginny sich stets gern mit der Mathematik und den Naturwissenschaften befasst und im Lauf der Zeit mühelos Aufgaben begriffen, die ihre Klassenkameraden vor Rätsel stellten. Doch als Tüftlerin oder hochbegabten Freak hatte sie sich nie gesehen. »Ich würde aber lieber einen Fernseher haben oder einen Computer mit Zugang zum Internet nutzen«, bemerkte sie.
Bidewell schüttelte sich. »Das Internet ist eine fürchterliche Entwicklung. Alle Texte der Welt … All diese unglückseligen Meinungen, Lügen und Irrtümer, die sich unablässig verändern … Und wozu das alles? Wer kann sich dabei je auf dem Laufenden halten oder sein Wissen erweitern? Was mich interessiert, ist nicht das unglaubliche Ausmaß menschlicher Torheit, liebe Virginia.«
Zwar konnte man sie wohl kaum eine Gefangene nennen, doch wie oft sie sich der Außentür auch näherte, nie konnte sie sich dazu überwinden hinauszugehen. Hin und her gerissen zwischen ihrer Sehnsucht nach der Außenwelt und der Angst, hatte sie jedes Mal Magenkrämpfe und eine unerträgliche Spannung in Kopf und Brustkorb. Sie konnte nicht zurück nach draußen gehen – jetzt noch nicht.
»Warum halten Sie mich unter Verschluss?«, schrie sie eines Morgens, als Bidewell weitere Kisten voller Bücher ins Zimmer karrte. »Ich hab’s satt! Immer nur Sie und diese Katzen!«
»Ich halte dich keineswegs unter Verschluss«, schnappte Bidewell zurück. »Egal, wo du hingehst, ich bin sicher, dass du auf Umwegen nach Hause zurückfindest, denn mit dieser Gabe bist du wirklich gesegnet. Kann sein, dass du den Katzen fehlen wirst.« Danach stapfte er mit knirschenden Kniegelenken hinaus und schloss die weiße Tür des Lagerhauses, deren ölige Rollen und Gegengewichte quietschten.
Ginny versetzte einer Kiste einen Fußtritt. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der kleinste Kater auf dem Fußboden hockte und sie mit selbstgefälliger Neugier beobachtete. »Du hast doch alles, was du willst«, teilte sie ihm in vorwurfsvollem Ton mit. Der Schwanz des kleinen Katers klopfte gegen einen verschlossenen Karton. Er stellte sich auf die Hinterbeine, kratzte heftig an der Pappe und hinterließ dabei nach Katzenart ein Zeichen: Es sah wie ein X mit Ausrufezeichen aus. Danach marschierte er mit hoch erhobenem, zuckendem Schwanz davon.
Manchmal knabberte er sogar an den Ecken der Bücher, die auf dem Arbeitstisch lagen, doch das schien Bidewell nichts auszumachen.
Als das Mädchen am Tor des Maschendrahtzauns aufgetaucht war, hatte Conan Arthur Bidewell drei heftige Emotionen gespürt: Ärger, freudige Erregung und Angst – wobei Letzteres in seinem Alter kaum noch von Freude zu unterscheiden war. Dass Veränderungen in der Luft lagen, konnte er mit den Händen greifen. Im Grunde war ihre Ankunft auch nicht mysteriöser
als das Gerinnen eines Tropfens in einer Regenwolke. Allerdings wusste er jetzt, dass die Arbeit vieler einsamer Jahre endlich Früchte tragen würde. Warum also sollte er, abgesehen von dem unvermeidbaren Herzklopfen angesichts drohender Gefahr, nicht auch Freude empfinden? Viele Jahrzehnte, allzu viele, hatte er sich in seine Bücher vergraben und Berechnungen für den unvorstellbaren Wandel durchgeführt und aufgezeichnet. Was hätte aussichtsloser und unerheblicher sein können? Er hatte darauf gewartet, dass die Integralläufer ihre Samen aussäten und eine neue Familie für ihn und das Lagerhaus schufen. Und jetzt …
Schon seit langem waren Bidewell in der literarischen Welt Veränderungen aufgefallen. Aus allen Teilen des Planeten schickte man ihm inzwischen bedeutende Funde, und es wurden ständig mehr. (Schade, dass sie keinen Zugang zu anderen Planeten hatten! Denn bestimmt tat sich da draußen inzwischen Ähnliches und stellte andere Gelehrte vor Rätsel, falls sie so wachsam wie die auf der Erde waren.) Die Stimmungen, die seine Bücher ausdrückten, waren jetzt durchweg düster. Auf diese Weise wird es mit der Welt zu Ende gehen: nicht mit einem Knall, sondern mit einem Fehldruck.
Auch in unmittelbarer Nachbarschaft hatte er Veränderungen bemerkt: Die Anzahl der Mäuse schrumpfte, die der Katzen stieg. Im Lagerhaus lebten jetzt zwei Katzen mehr als vor der Ankunft des Mädchens. Mit Minimus, seinem Lieblingskater, schienen sie gut auszukommen. Zweifellos gehörten sie trotz ihrer Unabhängigkeit allesamt zu Mnemosyne, der Mutter der Musen und Göttin der Erinnerung.
Und
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