Die Stadt am Ende der Zeit
grobkörniges
Foto in einem Kapitel über die älteren Gebäude der Universitätsstadt. Es zeigte die Innenseite einer Steinbrüstung hoch oben in einem Uhrenturm. In die jahrhundertealte schwarze Kruste aus Ruß und Dreck hatte jemand deutlich lesbar, mit den braven Druckbuchstaben eines Schuljungen, die Frage eingeritzt:
TRÄUMET IHR VON EINER STADT AM ENDE DER ZEIT?
Und darunter stand das Jahr, 1685 .
Eine weitere Inschrift unterhalb der Jahreszahl, vermutlich ein Name oder eine Adresse, war gewaltsam herausgekratzt worden, so dass ein hellbrauner Fleck zurückgeblieben war.
Durch die Tür am anderen Ende des Zimmers schob sich Conan Arthur Bidewell mit einem weiteren Stapel von Büchern, die wieder in die hohen Holzregale einsortiert werden mussten. »Das ist ein echtes Buch, keine meiner Kuriositäten, Miss Carol«, sagte er, als er sah, welche Lektüre sie sich ausgesucht hatte. »Allerdings gibt es unangenehme Tatsachen wieder.« Bidewells Wangen waren eingefallen; den gegerbten, glänzenden Schädel bedeckten spärliche Haarbüschel. Er ähnelt einer gut konservierten Mumie oder einer Moorleiche , dachte Ginny. Trotzdem ist er nicht wirklich hässlich.
Sie zeigte ihm die Abbildung. »Der Text ist wie der in der Zeitungsanzeige.«
»Stimmt.«
»Also geht das schon seit Jahrhunderten.«
Bidewell spähte durch die winzigen Brillengläser. »Viel länger. « Unter seinem Arm klemmten zwei zusammengefaltete
Zeitungen, The Stranger und The Seattle Weekly , die er auf dem Lesetisch ablegte. Eine Zeitung war schon eine Woche alt, die andere vom Vortag. Mit Haftzetteln hatte er bestimmte Kleinanzeigen markiert, die fast gleich lauteten:
Träumen Sie von einer Stadt am Ende der Zeit?
Wir können Ihre Fragen beantworten, Tel. …
Nur die Telefonnummern wichen voneinander ab.
»Dieselben Leute?«, fragte Ginny.
»Kann man nicht wissen. Allerdings gibt es in unserer Nachbarschaft nur noch einen, der so was aufgibt. Früher waren es zwei, glaube ich. Doch es werden bald wieder mehr sein.« Bidewell dehnte die freie Hand, so dass die Fingerknöchel knackten, und stieg die hohe Leiter hinauf, die oben an einer Gleitschiene befestigt war. Die Schiene erstreckte sich über alle vier Wände und führte auch über die Türen und ein zugenageltes Fenster hinweg. Bidewell stellte die Bücher, mit denen er sich befasst hatte, ins Regal zurück. Als er die spindeldürren Beine beugte und streckte, knisterten seine dicken Kordhosen.
»Und die suchen schon die ganze Zeit nach Leuten wie mir? Dann müssten sie ja uralt sein«, meinte Ginny.
»Manche leben und arbeiten immer noch, falls man es so nennen will. Es gibt sehr viele schlimme Unterströmungen in diesen tiefen jungen Gewässern. – Ist Ihnen auf dem Weg hierher jemand gefolgt?«
Bisher hatte Bidewell es unterlassen, Ginny danach zu fragen, vielleicht absichtlich. Wie verschroben er auch sein mochte, offenbar konnte er sich in ihre Ängste einfühlen.
Ginny wollte sich nicht an den Mercedes, den Münzen werfenden Mann und die zündelnde Frau erinnern. »Ich glaube schon«, erwiderte sie leise. »Gut möglich.«
»Mm.« Während Bidewell die letzten Bücher in die Lücken stellte und die Leiter hinunterstieg, machte er mit Lippen und Backen kleine glucksende Geräusche. Von der letzten Sprosse aus blickte er über die Schulter und spähte zu der großen Kugellampe aus Milchglas hinüber, die in einer Fassung aus Bronze von der Decke baumelte. »Sollte die Birnen wohl besser austauschen, wie?«
»Diejenigen, die diese Anzeigen aufgeben und das hier eingeritzt haben … «, Ginny tippte auf die Abbildung aus Oxford, »sind das Menschen?«
Bidewell nickte so hastig, dass er an einen pickenden Vogel erinnerte. »Diese Inschrift hat ein Schuljunge eingeritzt, den ein anderer Schuljunge dazu angestiftet hat. Ein älterer Mann hat den anderen dafür bezahlt. Doch um Ihre Frage zu beantworten: Ja, die meisten sind Menschen.«
»Und wieso sterben sie nicht?«
»Etwas hat sie berührt und ihre Lebensspannen unglaublich verlängert. Tut mir leid, ich möchte nicht geheimnistuerisch wirken.«
Ginny war sich über diese Dinge noch immer nicht im Klaren, wusste nicht einmal, ob sie Bidewells Lagerhaus einfach wieder verlassen, jede Hoffnung auf Erklärungen aufgeben und ihr Glück draußen versuchen sollte. (»Alles zu seiner Zeit«, hatte er gesagt).
Im Alter von sechzehn Jahren waren bei Ginny erstmals Phasen der Geistesabwesenheit aufgetreten. Wenn sie spazieren
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